Genau zwei Jahre ist es her, dass die Europäische Union im März 2016 mit der Türkei den berühmt-berüchtigten Flüchtlingsdeal schloss. Sie wisse, dass dieses Abkommen viele Gegner habe, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel am Mittwoch in ihrer Regierungserklärung. "Ich werde es jedoch immer verteidigen, weil es allemal besser ist, als dem Sterben in der Ägäis und den Taten der Schlepper und Schleuser tatenlos zuzusehen." Ein Dreivierteljahr ist es her, dass die EU der libyschen Regierung in Tripolis, die nur kleine Teile des Landes kontrolliert, 46 Millionen Euro für Ausrüstung und Ausbildung einer eigenen Küstenwache spendierte. Aus Italien folgte weiteres Geld, und auch Deutschland greift der libyschen Küstenwache unter die Arme. "Ähnliche Vereinbarungen" wie mit der Türkei, so Merkel, "versuchen wir in Kooperation mit der libyschen Regierung der nationalen Einheit zu schließen, allerdings unter weit schwierigeren Voraussetzungen als mit der Türkei". Zeit also, Merkels Lob für das EU-Türkei-Abkommen zu prüfen und hinzuschauen, was in der Ägäis und im zentralen Mittelmeer vor Libyens Küste geschieht. In der Tat ertrinken kaum noch Flüchtlinge und Migranten in der Ägäis, weil sich nur noch sehr wenige Menschen über die Meerenge zwischen der Türkei und Griechenland auf den Weg nach Europa machen. Das ist ein großer Erfolg. Die Griechen schicken fast keine Flüchtlinge zurück Er ist aber weniger dem Abkommen zu verdanken als der Tatsache, dass die türkische Armee kaum noch syrische Flüchtlinge über die syrisch-türkische Grenze lässt. Dass die türkischen Küstengewässer weit strenger kontrolliert werden als noch 2015 und 2016. Und dass es syrischen Flüchtlingen in der Türkei auch wegen der finanziellen Hilfe aus Brüssel inzwischen besser geht. Das EU-Türkei-Abkommen selber jedoch versagt, es greift nicht – oder nur sehr schlecht und lückenhaft. Warum? In dem Vertrag mit Brüssel hat sich die Türkei verpflichtet, alle von griechischen Behörden und Gerichten abgelehnten Asylbewerber zurückzunehmen, die es von der türkischen Küste zu einer griechischen Insel geschafft haben. Die Türkei steht bislang zu ihrem Wort, doch die Griechen schicken so gut wie keinen Flüchtling und Migranten zurück. Das liegt an zweierlei, an einem rechtlichen und einem praktischen Hindernis. Die rechtliche Barriere: Das Abkommen stuft die Türkei als ein sicheres Drittland ein. Ergo: Wer Flüchtlingsschutz erhalten will, hätte den Antrag bereits auf seiner Reise durch das Land am Bosporus stellen müssen – und nicht erst in Griechenland, also Europa. Es gibt allerdings ein kleines Schlupfloch: Wer Griechenland erreicht, darf nach wie vor auch dort um Asyl bitten – und zwar mit der Behauptung, für ihn persönlich sei die Türkei keineswegs sicher, weil sie ihn entweder nicht schütze, oder weil dort für ihn die Lebensbedingungen unerträglich und unzumutbar seien. Diesen Antrag stellen natürlich so gut wie alle Flüchtlinge und Migranten, sobald sie die griechische Küste erreicht haben. Ihre Behauptung ist auch nicht in allen Fällen von der Hand zu weisen. Das gilt weniger für Kriegsflüchtlinge aus Syrien, die in der Türkei millionenfach Aufnahme finden, als für die Menschen, die aus Afrika, aus Pakistan, Afghanistan oder Bangladesch stammen und ebenfalls über die Türkei nach Griechenland gekommen sind.
Bislang existiert in der Türkei nur ein sehr rudimentäres, lückenhaftes Asylrecht. Und auch die Genfer Flüchtlingskonvention steht dort immer noch unter einem uralten geografischen Vorbehalt, dessen Ursprünge in den Folgen des Zweiten Weltkriegs liegen: Die Türkei hat sich grundsätzlich nur bereit erklärt, jenen Menschen Protektion zu gewähren, die aus Europa geflohen sind. Für Flüchtlinge, die keine Syrer sind, ist es darum fast unmöglich, in der Türkei Schutz zu erhalten. Doch das Flüchtlingsabkommen scheitert vor allem am zweiten Punkt, am Versagen der griechischen Asylbehörden. Man muss sich nur einmal die verheerende Situation im Auffanglager Moria auf der griechischen Insel Lesbos anschauen. Hier sollte – und auf dem Reißbrett sieht der Plan perfekt aus – ein sogenannter Hotspot entstehen. Binnen weniger Wochen sollte hier entschieden werden, wer einen Anspruch auf Flüchtlingsschutz hat und wer nicht, und sollten die Abgelehnten unverzüglich zurück in die Türkei geschickt werden. So wünschte man sich das Asylsystem. Doch trotz Millionen von Euro aus Brüssel und viel zusätzlichem Personal aus EU-Staaten schaffen es die griechischen Behörden nicht, die Anträge zügig zu bescheiden. Die Menschen müssen oft über ein Jahr lang warten. Außerdem: Wer am Ende keinen Schutz erhält – und das sind die meisten –, bleibt gleichwohl im Lager, weil Griechenland unfähig ist, in angemessener Frist Rückführungen in die Türkei zu organisieren. Die Folgen sind fatal: Moria, einst für 2.500 bis maximal 3.000 Flüchtlinge ausgelegt, muss derzeit mehr als doppelt so viele beherbergen. Es gibt nicht genug wetterfeste Unterkünfte, die sanitären Anlagen strotzen jeder Beschreibung. Krankheiten brechen aus, es sind bereits Menschen gestorben. Immer wieder kommt es zu Aufständen und Schlägereien, kürzlich steckten Flüchtlinge einen Verwaltungstrakt in Brand. Derweil schieben der Einwanderungsminister aus Athen und der Bürgermeister von Lesbos einander die Schuld zu. Dabei liegt die Schuld eindeutig bei der Zentralregierung und nicht bei der Inselverwaltung. In Libyen ist die Lage noch verzweifelter In der ersten Hälfte 2017 erreichten etwa 9.000 Flüchtlinge und Migranten Griechenland, in der zweiten Hälfte bereits 20.000. Steigt die Zahl weiter, wächst die Zahl der Menschen in griechischen Lagern wie Moria, wird der EU-Türkei-Pakt endgültig zur Makulatur. Unterdessen möchte die Bundeskanzlerin diese Vereinbarung auch gerne auf Libyen ausdehnen. Doch hier ist die Lage noch verzwickter – und verzweifelter. Im zentralen Mittelmeer sterben nach wie vor Menschen auf ihrer Flucht nach Europa, in diesem Jahr bereits Hunderte. Weil skrupellose Schleuser sie in untaugliche Schlauchboote setzen, aber immer häufiger auch, weil Flüchtlinge und Migranten in waghalsigen Manövern den Häschern der libyschen Küstenwache zu entkommen versuchen. Und weil es immer weniger private Rettungsschiffe gibt, die Schiffbrüchige aus den Wellen ziehen. Derzeit kreuzt nur noch die Aquarius, ein Rettungsboot von Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée, vor der libyschen Küste. Zwei private Schiffe hat die italienische Justiz beschlagnahmt – im vergangenen August die Iuventa der Hilfsorganisation Jugend Rettet und Anfang dieser Woche das Rettungsschiff der spanischen Hilfsorganisation Proactiva Open Arms. Der Vorwurf: Sie steckten mit den Schleusern unter einer Decke. Doch gegen Jugend Rettet konnten die Staatsanwälte bislang noch keine schlagkräftigen Beweise vorbringen. Ende April wird das italienische Kassationsgericht in Rom entscheiden. Außerdem: Seit die libysche Küstenwache einseitig – und rechtswidrig – seine Rettungszone auf 74 Seemeilen ausgedehnt hat und private Helfer bisweilen unter Einsatz von Schusswaffen bedroht, ist die Arbeit für diese NGOs lebensgefährlich geworden. Natürlich wäre grundsätzlich nichts dagegen einzuwenden, dass Libyer Schiffbrüchige retten, es wäre sogar ihre Pflicht als Küstenstaat. Doch sie bringen die Flüchtlinge und Migranten nicht in Sicherheit, sondern stecken sie in Gefängnisse, wo sie gefoltert, missbraucht, versklavt und ausgebeutet werden. Libyens Küstenwache gehört keiner Seenotleitstelle an. Die dafür verantwortliche Internationale Seeschifffahrts-Organisation (IMO) hat bislang auch kein libysches Such- und Rettungsgebiet eingerichtet. Vor allem aber: Libyen ist kein sicherer Hafen für in Seenot geratene Menschen, sondern die Hölle. Das bestätigen nicht nur die privaten Seenotretter, sondern auch vor Ort tätige internationale Hilfsorganisationen wie die Internationale Organisation für Migration (IOM), das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen UNHCR oder das Internationale Komitee vom Roten Kreuz. An Orten wie Moria auf Lesbos oder im zentralen Mittelmeer vor Libyen entscheidet sich, was von der in Europa hochgehaltenen Menschenwürde übrig bleibt. |
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