Kiyaks Deutschstunde: Sie steht zu allem, was sie getan hat

 
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Kiyaks Deutschstunde
22.03.2018
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Sie steht zu allem, was sie getan hat
 
Deutschland, das sind wir alle! Angela Merkel umarmte in ihrer Regierungserklärung das ganze Land. Und nahm rein gar nichts zurück.
VON MELY KIYAK


Gleich wird sie eine Stunde am Stück sprechen. Eine Stunde besteht faktisch immer aus 60 Minuten. Spricht hingegen die Kanzlerin, dann hat diese Stunde mehr Minuten. Nervosität liegt in der Luft. Wird man es schaffen, der 4. Regierungserklärung der neu gewählten Kanzlerin eine Stunde lang zuzuhören und dabei Nuancen zu erfassen, Perlen zwischen den Zeilen zu finden, aufgewühlt oder befreit zu sein, oder womöglich freudig der Zukunft entgegenzusehen?
 
Bei Phoenix überbrücken sie die Zeit bis zur Liveübertragung mit Volker Kauder. Er spürt die Sorge des Fernsehpublikums, also macht er den Zuschauern den Mund wässerig. Gleich werde es "inhaltlich voll zur Sache gehen". Gerd-Joachim von Fallois, der dem frühen Terence Hill aus Vier Fäuste für ein Halleluja zum Verwechseln ähnlich sieht, bohrt journalistisch motiviert nach, immerhin befindet man sich hier bei Phoenix, dem "Ereigniskanal".
 
Kauder teasert, wie man es in den Medien nennt, die Rede schon mal an. Thema Digitalisierung: "In drei Jahren werden alle Schulen am Netz sein" und man denkt, wow, das ist gigantisch, wenn die Kinder nicht mehr ihr privates Prepaidhandy nutzen müssen, sondern das W-LAN-Passwort des Schulrouters bekommen. Als dann auch noch Tina Hassel aus Versehen hinten große Kreise drehend durchs Bild geht und Kauder die Lösung der Arbeitslosigkeit ankündigt, "werden die Arbeitslosigkeit endgültig besiegen", da freut man sich auf einmal und kann kaum erwarten, dass es endlich losgeht.
 
Die vergiftete Stimmung
 
Angela Merkel trägt Magenta. Sie erinnert daran, dass vor 171 Tagen gewählt worden ist. Das ist ein Trick. Es gibt beachtlich viele Bürger in diesem Land, die finden, dass sie die Schuld daran trägt, dass die Regierungsbildung seit sechs Monaten nicht zustande gekommen ist. Oder die finden, dass sie verantwortlich dafür ist, dass die Jamaika-Sondierung geplatzt ist. Durch die bloße Erwähnung dieser Tatsachen, die 171 Tage, die sechs Monate, Jamaika, muss sie die Vorwürfe weder entkräften noch sich sonst irgendwie positionieren. Sie nimmt es zur Kenntnis und mehr auch nicht. Das ist die denkbar eleganteste und unprovokanteste Form, auf etwas nicht einzugehen.
 
Dann leitet sie über. Dass sich "in unserem Land offensichtlich etwas geändert hat", obwohl sich weder an der politischen noch wirtschaftlichen Situation eine negative Tendenz feststellen ließe. Alles prima. Für Forschung und Bildung wird nun auch mehr ausgegeben. Keine neuen Schulden. Aber, und damit dringt sie ins Zentrum des Konfliktes vor, "der Respekt vor unterschiedlichen Meinungen ist zurückgegangen".
 
Sie hat es also auch mitbekommen. Die vergiftete Stimmung. Das Miesepetertum. Den Hass aufs Fremde. Und sie bezieht das alles auf einen Satz, der von ihr stammt. Nämlich "Wir schaffen das". Und zum ersten Mal vermutet man, wie angepisst sie ist. Sie sagt es natürlich anders. Sie habe den Satz privat und öffentlich unzählige Male gesagt, und er sei "unglaublich banal". Das enthält zwei Interpretationen. Entweder hält sie ihre eigene Aussage für schlicht, nichtssagend, blöd und überflüssig. Oder aber sie hält die Debatten darüber für schlicht, nichtssagend, blöd und überflüssig.
 
Und wieder macht sie etwas sehr Geschicktes. Sie nimmt in ihren folgenden Aussagen über die Flüchtlingsdebatte fast alles an Begriffen und Schlagworten auf, was von rechts bis superrechts gefordert wird. "Schnelle Asylentscheidungen", "2015 darf sich nicht wiederholen", "EU-Außengrenzen schützen", also wirklich das ganze hysterische Besteck der reaktionären Rechtsnationalen.
 
Es sind nur Gedanken, mehr nicht
 
Aber, und das sind jetzt ihre Worte, "zur ganzen Wahrheit gehöre eben auch", und was jetzt folgt, nimmt derselben Klientel alles wieder weg, die sie eben zu besänftigen versuchte: Zur ganzen Wahrheit gehöre, dass die UN-Hilfsprogramme dramatisch unterfinanziert gewesen waren. Dass die Dublin-Abkommen nur auf dem Papier schlüssig seien. Sie erinnert an die Hoffnungslosigkeit der Menschen im Irak, in Syrien, in Libyen. Sie erinnert an die Toten in der Ägäis. An die eigene Halbherzigkeit in Bezug auf den Syrien-Krieg. Und dass man die Menschen im Einklang mit internationalem Recht aufnahm und Außen- und Innenpolitik immer zusammengehören. Kurz: Sie steht zu allem, was sie getan hat.
 
Natürlich hätte sie ihr Anliegen auch deutlicher ausführen können. Sie hätte sagen können, indem wir das flehentliche Klagen der Mitarbeiter der UN-Hilfsprogramme und des UNHCR ins Leere laufen ließen, die monatelang berichteten, dass sie die Kinder nicht mehr ernähren können, hätten wir Europäer in Kauf genommen, dass die Menschen die Flüchtlingslager verließen. Sie hätte sagen können: "Wir ließen sie verhungern, also kamen sie." Sie hätte sagen können: "Die ganzen Abkommen über Einwanderung in Drittstaaten sind Schwachsinn." Sie hätte sagen können: "Rutscht mir den Buckel runter mit eurem Gerede von der Herrschaft des Unrechtsstaates, wir sind der Genfer Flüchtlingskonvention beigetreten." Aber was würde es nützen?
 
Wenn schon so ein banaler Satz wie "Wir schaffen das" eine endlose, um sich selbst kreiselnde Diskussion nach sich zieht, dann würde das Aussprechen der ganzen Wahrheit wahrscheinlich einen Bürgerkrieg auslösen. Also versteckt sie ihre Position hinter erstens, zweitens, drittens, irgendwo zwischen den Ankerzentren und den zügigen Rückführungen. So ist sie halt. Und sie wird sich auch nicht mehr ändern. Aber vielleicht ist es auch das einzig Kluge in dieser Situation.
 
Baukindergeld und Digitalpakt
 
Sie spricht vor 92 Rechtsextremisten, Rassisten und Demokratiehassern, die von sechs Millionen Deutschen in das Parlament gewählt worden sind. Vor ihr sitzt eine SPD, die nun die Integrationsprobleme künftig deutlicher aussprechen wolle (als ob darüber in Deutschland jemals auch nur eine Sekunde lang geschwiegen wurde). Sie spricht vor einer FDP, die als größten Wunsch äußerte, dass die Bundesregierung endlich wieder mit Russland spricht. Sie spricht vor einer CSU, die das Stampfkartoffelministerium durchsetzte. Sie stand einer Linken gegenüber, die künftig Politik in "Sammlungsbewegungen" machen will. Sie spricht so, dass sie bei sich blieb und trotzdem niemandem zu nahetrat. Selbst der Moment, als sie sich persönlich an Horst Seehofer wandte, war sehr zärtlich. Der Islam sei ein Teil Deutschlands, und wer Probleme damit habe, diesen Gedanken anzunehmen, könne das ruhig, es sei sein gutes Recht. Ist doch nett. Netter geht es nicht. Es war so nett, dass Seehofer mit einem dümmlichen Lächeln darauf reagierte, anstatt einfach freundlich zu gucken und als Zeichen des Respektes mit zu klatschen. Denn wie sie schon sagte, also auf ihre Art: Es sind nur Gedanken, mehr nicht.
 
Natürlich warb sie auch für lauter ominöse Dinge, die kein Mensch versteht, weil sie natürlich nur in der Fantasie existieren, Baukindergeld und Digitalpakt, irgendwas mit deutsch-französischer Kooperation wegen Antriebsmotor oder Braunkohle oder 5G-Netz, es war so viel und kam so schnell nacheinander und ist auch egal. Denn jeder weiß, dass nichts davon in den nächsten dreieinhalb Jahren geschehen wird. Jetzt geht es erst einmal darum, dass die Leute in diesem Land wegen der Kriegsflüchtlinge nicht durchdrehen.
 
Ein kleiner Schwenk über die Abgeordneten zeigte, dass die Kollegen schon längst an den Tablets und Smartphones hingen, die Nahles, die Hendricks, die Göring-Eckhardt, und Hubertus Heil saß zeitweise so abgewandt, noch ein paar Grad mehr und er hätte der Kanzlerin den Rücken zugewandt, er ist an sich ein Guter, so wie eine Menge Guter in diesem Parlament sitzen, aber sie sind und bleiben eben ein Abbild ihrer selbst. Wieso soll ausgerechnet die Bundeskanzlerin da herausstechen? Sie beendete ihre Rede für ihre Verhältnisse reichlich pathetisch: Deutschland, das sind wir alle! Wieder so ein kluger Schachzug. Denn darin steckt eben auch ein verstecktes "Dann macht es doch besser!".


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