10 nach 8: Marlen Hobrack über "I, Tonya"

 
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21.03.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Unser Bad Girl
 
Die Eiskunstläuferin Tonya Harding war erfolgreich, aber unbeliebt. In dem Film "I, Tonya" ist ihre Bösartigkeit weder lustvoll noch therapierbar. Sie ist alternativlos.
VON MARLEN HOBRACK

Die Schauspielerin Margot Robbie spielt in "I, Tonya" die Eiskunstläuferin Tonya Harding, die 1991 US-amerikanische Meisterin wurde. © dcm Filmverleih
 
Die Schauspielerin Margot Robbie spielt in "I, Tonya" die Eiskunstläuferin Tonya Harding, die 1991 US-amerikanische Meisterin wurde. © dcm Filmverleih
 

Es gibt Pferdemädchen und Eiskunstlaufmädchen. Ich träumte als Kind, trotz ausgeprägter Körperkoordinationsschwierigkeiten, von einem Dasein als Eisprinzessin. Auf meinem Kassettenrekorder lief das Hörspiel Benjamin Blümchen und die Eisprinzessin, bis das Band leierte. In der Geschichte wird ein armes, blondes Mädchen Siegerin eines Eiskunstläuferinnenwettbewerbs. Ihre reiche Widersacherin ist nicht nur weniger talentiert, sondern noch dazu schwarzhaarig, was im Märchen für gewöhnlich "hässlich" bedeutet, und sie hat eine böse Mutter, die alles, aber auch alles tut, um den Sieg der anderen zu verhindern.

Die böse Eishexe, die gegen die süße Eisprinzessin vorgeht, ist ein beliebtes Narrativ. Mitte der 1990er trat es schlagartig aus den Kindergeschichten in die Realität, nämlich in Gestalt der Eiskunstläuferin Tonya Harding. 1994 arrangierte ihr Ehemann einen Anschlag auf die nahezu perfekt prinzessinnenhafte Kontrahentin Nancy Kerrigan. Die Bilder der von einer Eisenstange empfindlich am Knie getroffenen und schreienden Kerrigan gingen um die Welt. Harding hat bis Januar dieses Jahres jegliche Mitwisserschaft stets abgestritten und wurde damals lediglich wegen Behinderung der Ermittlungen verurteilt. Doch ihre Rolle in diesem sehr traurigen Eisspektakel stand in den Medien sofort fest: Sie war die böse Eishexe.

Anders als die Hexen im Märchen umwehte Harding ein dunkler Antiglamour. Tonya Harding war das ultimative Bad Girl. Man liebt es, sie zu hassen. Schon wegen dieser schlecht blondierten Achtziger-Frizzfrisur, dazu kräftige Schenkel und ungewöhnlich hässliche Kostüme. So sieht doch keine Heldin für kleine Mädchen aus! Kerrigan dagegen war so sleek wie eine Teflonpfanne. Alles Schlechte des Leistungssports, zu dem nun einmal auch der Eiskunstlauf zählt – der unerbittliche Umgang mit Körpern, der endlose Drill, das Hungern für eine perfekte Figur, die Inszenierung einer glatten Oberfläche, die für Frauen stets ein hübsches Lächeln und den Mangel an Willen zum Widerspruch bedeutet, sowie die bedingungslose Konkurrenz –, all das wurde auf Harding projiziert. Und sie bot hierfür die ideale Projektionsfläche.

Dabei dürfte doch klar sein, dass Harding und Kerrigan nie die Bibi-und-Tina-beste-Freundinnen-Version des Eiskunstlaufs hätten sein können. Die Vorstellung, dass Frauen, nur weil sie Frauen sind, über professionelle Konkurrenz hinweg solidarisch, gar befreundet sein könnten, ist meist illusorisch. Zu einer besonderen Quälerei des Leistungssports – wie übrigens auch der Misswahlen – gehört dann auch, dass die Verliererinnen die strahlende Siegerin auf dem Treppchen umarmen müssen. Und zwar möglichst ohne, dass das gequälte Lächeln allzu sehr Zähnefletschen gleicht. All die Mühe und harte Arbeit soll im Moment der Niederlage vergessen sein. Jedenfalls für Frauen. Sie dürfen sich nicht sichtbar ärgern.

Tonya Harding aber war eine Athletin, die keine Lust hatte, die strahlende Siegerin auf dem Treppchen zu beglückwünschen und ansonsten den Mund zu halten. Das wurde ihr zum Verhängnis. Jedenfalls könnte man das in dem morgen in den deutschen Kinos anlaufenden Film I, Tonya sehen. Er erzählt die Geschichte aus der Perspektive Hardings, der Hexe, der vermeintlichen Täterin. Und er fügt ihr ein verblüffendes Element hinzu. Hardings Geschichte ist nicht länger die Erzählung von einer missgünstigen, niederträchtigen Frau, die gegen ihre schöne Konkurrentin weit jenseits von sportlicher Fairness anging, sondern darüber hinaus die eines hart arbeitenden White-Trash-Girls, das nach anstrengenden Kellnerinnenschichten die eigenen Kostüme näht. Die Geschichte einer Läuferin, die etwas zu handfest, etwas zu muskelbepackt und viel zu wenig glamourös ist, als dass sie eine Eisprinzessin verkörpern könnte. Nicht zuletzt eine, die keine gesunde, liebevolle Familie in ihrem Rücken hat.

Hier wird White Trash zelebriert

Aus feministischer Perspektive ist der Film eine harte Nuss, muss man doch irgendwie solidarisch sein mit Harding, der das Leben ständig Mist auftischt, aus dem sie am Ende tatsächlich Gold macht. Und die ganz klar ein Opfer häuslicher und systemischer Gewalt ist. So richtig solidarisch möchte man dann aber doch nicht sein mit einer Frau, die zumindest von Plänen wusste, ihre Konkurrentin auszuschalten. Harding taugt nicht als Empfängerin für Solidaritätsadressen. 

I, Tonya bietet nicht nur ein Narrativ, das fast schon obszön freizügig mit der Frage von Moral und Schuld umgeht, sondern rückt auch ein White-Trash-Mädchen ins Zentrum der Erzählung, die aus dem amerikanischen Traum einen echten Albtraum für alle Beteiligten werden lässt. Es geht vordergründig um das weiße Trailerpark-Schrottimmobilien-Waffenbesitzer-Redneck-Amerika, über das wir Europäer so gerne amüsiert oder schockiert den Kopf schütteln. Doch hier wird der White Trash nicht mitleidvoll einfühlsam betrachtet, soziologisch eingehegt oder belächelt. Er wird zelebriert. Vor allem zeigt der Film die verblüffende Fähigkeit des Rednecks, immer wieder aufzustehen, egal wie oft er fällt. Arschbacken zusammenkneifen und weitermachen! Keine Zeit für Tränen! Die musst du dir schon als kleines Mädchen abgewöhnen. Harding, die nach ihrer Verurteilung lebenslang für das Einskunstlaufen gesperrt wurde, kämpfte einfach weiter. Als Boxerin und Wrestlerin. Kampf ist das Grundprinzip des White-Trash-Lebens, das lernt man aus diesem Film, das lernt man aus dem Leben Hardings. Stolz und Selbstermächtigung zieren die bisweilen etwas doof aus der Wäsche guckenden Gesichter der Figuren, die Harding im Film umgeben.

Gefeiert wird ein Amerika, in dem Kinder mit Waffen Kaninchen erlegen, deren Fell sie im Anschluss als Jacke tragen, in dem es manchmal an Liebe mangelt, aber nie an Munition für Schusswaffen. In dem es Backpfeifen hagelt und auch mal Messer fliegen, und das nicht einmal so tut, als würde all das aufgewogen durch eine besondere Form von Ehrlichkeit oder bodenständige Liebe. Das nämlich war eine alte Erzählung vom White-Trash-Amerika aus Neunzigerjahre-Sitcoms wie Roseanne, in der die stets prekären ökonomischen Verhältnisse, das Fluchen, das Pack-schlägt-sich-Pack-verträgt-sich aufgewogen wurde durch das eine Versprechen: dass man im Zweifelsfall zusammenhält, dass man einander liebt, ziemlich ehrlich sogar. Und man gemeinsam durch dick und dünn geht. Na ja, meistens durch dick.

Tonya Harding wird im Film wieder und wieder geschlagen, von der Mutter, vom Ehemann, von den Konkurrentinnen, die nicht besser oder höher springen, aber doch schöner aussehen. Aber auf jeden Schlag folgt ein Tritt, ganz buchstäblich. Das White-Trash-Girl schlägt zurück. Kein Faustschlag ihres Mannes bleibt unbeantwortet. Die Retourkutsche für jeden Schlag in die Fresse ist ein kräftiger Tritt ins Gemächt, um es vornehmer auszudrücken, als der Film es zeigt.

Wer glaubt, dass die Redneck-Charaktere, allen voran Tonyas Mutter, überzeichnet seien, der schaue sich Original-Videoaufnahmen der Beteiligten an. Man wird staunen. Natürlich ahnt man sofort, dass es dieses Amerika sein könnte, das einen Trump wählt, wenn es denn noch wählen geht. Dass es dieses Amerika ist, das Lehrer lieber mit Schusswaffen ausstatten möchte, als halbautomatische Waffen für Geisteskranke zu verbieten. Jedenfalls ist das gezeigte Leben des Redneck-Amerikas durchdrungen von Gewaltakten. Dennoch hat man allenfalls bei den Simpsons so nonchalant über Gewalt am Kind in einem Film gelacht. Nie war häusliche Gewalt unterhaltsamer, ob das nun politisch korrekt ist oder nicht.

Dass die Charaktere dabei die vierte Wand durchbrechen und sich dem Publikum direkt kommentierend zuwenden, ist ein wunderbarer Trick des Regisseurs Craig Gillespie. Die Kinoleinwand, diese so dünne und doch hermetische Trennwand zwischen Realem und Imaginärem, wird durchrissen, und zum Vorschein kommt die Erkenntnis, dass vielleicht auch in uns das brutale, niederträchtige Miststück lauert, das weiß oder auch nicht weiß, dass auf die Konkurrentin ein Attentat geplant wird. Wir alle sind am Ende gar nicht so weit entfernt von diesem White-Trash-Amerika. Es stellt lediglich mit mehr Stolz zur Schau, wie leicht die Zivilisationsfirnis, die wir gegen die Rohheit mit uns herumtragen, reißen könnte.

Für ihre Rolle erhielt Margot Robbie eine Oscarnominierung. Einst war ihr als irre Harley Quinn in der DC-Comicverfilmung Suicide Squad der endgültige Durchbruch im Blockbusterkino gelungen. Als Tonya Harding wirkt sie wie die White-Trash-Variante des Marvel-Antihelden Deadpool. Auch Deadpool reißt beständig die vierte Wand zwischen sich und dem Zuschauer ein und lässt uns an seiner obszönen Brutalität teilhaben. Katharsis ist das. Und eine Feier der Amoral.

I, Tonya präsentiert eine Heldin, die ganz und gar unperfekt ist, moralisch verwerflich, aber sympathisch in ihrer Reuelosigkeit. Sie fügt dem Reigen der weiblichen (Anti-)Heldinnen eine neue Facette hinzu: Ihre Bösartigkeit ist weder lustvoll noch therapierbar. Sie ist alternativlos. Sie formt ihr eigenes Genre Frau. Eat this, Wonder Woman!
 

Marlen Hobrack studiert im Master-Studiengang Kultur- und Medienwissenschaften, nachdem sie zuvor einige Jahre in einer Unternehmensberatung gearbeitet hat. Derzeit schreibt sie an einem Social-Media-Roman. Sie lebt mit ihrem Sohn in Dresden und ist Gastautorin bei "10 nach 8".


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