| | © KnoRke84/photocase.de | Im Zug nach Westen, seit einer Ewigkeit, womöglich seit mehreren. Würde die Zeit Bahn fahren, sie führe Regionalbahn. Es ist Nacht, wir rumpeln über den Rhein bei Köln, der Fluss sieht aus wie das Innere einer Achselhöhle. Schwere Sentimentalitätsausbrüche. Apropos Achsel: In meiner Heimatzeitschrift DB mobil steht das neue Interview („exklusiv“) mit dem Schauspieler Henning Baum. Vielgelesen, vielvergessen, jetzt erst fällt es mir endlich in die zitternden Hände. Was für ein Mann, kannte ihn kaum – ist dies erst der Beginn meines Lebens? Fotos wie aus dem alten Testament. Ob man nicht, leitet Baum ein, statt der üblichen 08/15-Fragen zu Bizepsumfang, Brustbehaarung und Intimleben ein Gespräch über Bücher führen könne? Das hier wird definitiv der Beginn von etwas ganz Neuem, Leben ist gar kein Ausdruck dafür. Womöglich ein neues Testament. 08/15 war gestern. Bizepsumfang, Brustumfang, Intimumfang – mein Dasein war so schmal, bisher. Erste Frage: „Herr Baum, haben Sie Wohllebens Bestseller ‚Das geheime Leben der Bäume’ gelesen?“ Erste Antwort: „Nein, ich bin selber ein Baum.“ Leck mich en de Täsch, de Jong is jot!, wie wir ehemaligen, ewigkeitssentimentalen Kölner sagen. Wer könnte leben ohne den Trost der Bäume? Den anschließenden Dialog dagegen bedecken wir besser mit dem Mantel der Liebe, dem Mantel des Schweigens, und sei es nur aus falsch verstandener Männersolidarität. Man kann doch nicht ernsthaft etwas zitieren, was das ganze Mitgeschlecht in Mitleidenschaft zieht. Oder doch, was solls, kommt nicht mehr drauf an, die Zeit der Gedankenpolizei ist vorbei. Bringen wir den Fortschritt halt zum Erliegen, und die Fortpflanzung wahrscheinlich gleich mit. Frage: „Welche Bücher lesen Sie mit schlechtem Gewissen?“ Antwort, in etwa: Romane über ehemalige Militärpolizisten. Geschenkt. Doch die Begründung knistert: „Cool, aber nur was für Kerle. Was Paulo Coelho für Frauen ist, ist Jack Reacher für Männer. Die Schauspielerei ist ein extrem unmännlicher Beruf. Man muss aufpassen, nicht zu verweiblichen.“ Ehemalige Militärpolizisten seien da ein hilfreiches Gegenmittel. What. The. Baum. Henning, altes Haus, alter Schwede, alter Mann. Man ertappt sich bei allem möglichen. Instinktiv wünscht man sich Militär herbei als möglicherweise hilfreiches Gegenmittel. Oder Gedankenpolizisten, von mir aus ehemalige. Draußen vor den Fenstern noch immer Undurchdringlichkeit, Aussichtsarmut, Dunkel. Drinnen, wenn man ehrlich ist, nichts anderes. Was ist das für eine Nacht, in der ein Gespräch über Bücher fast ein Verbrechen ist. Atemlos erreichen wir die Ränder des Rheinlands, die Ränder der Sprache. Schwermut der Nacht, Alternativlosigkeit der Nacht. Was soll einer lesen ohne den Trost der DB mobil? Mobil, debil, die Wörter berühren sich im Unendlichen. Doch schon legt Henning „DB“ Baum nach, donnergleich, mit dem Kopfumfang einer Salzsäule. Und womit? Mit einem Satz für Ewigkeiten, für Gültigkeiten, für Testamente: „Bücher stiften dazu an, über das nachzudenken, was man denkt.“ Ein Denker wie ein Baum. Selbstbezüglich wie ein Brustumfang. Und bereits im nächsten Satz schon wieder ein Anschlussgedanke, das wird eine lange Nacht. Schauspieler seien ohne Rampenlicht „ununterhaltsam“. Schönes Wort. Wichtiges Wort. Natürlich alles andere als ein selbstbezügliches Wort, das wird er selber wissen. Aber keine Atempause, history in the making. „Es geht voran“, wie die Fehlfarben singen. Den Zug eine Stunde vorstellen Nun öffnet Baum seinen Forderungskatalog: Was Bücher für ihn müssen: spannend sein („krass spannend“), unterhalten oder seinen Geist bereichern. Schreibe einer „pseudointellektuellen Scheiß“, denke er, Baum: „Hör mal, du Niete.“ Da ist es wieder, dieses streng geheime Leben der Bäume. Ich für meinen Teil freue mich über jeden, der „pseudointellektuell“ überhaupt buchstabieren kann. Weiter gehts: „Während Männer ab 40 versteinern, suchen Frauen in Romanen nach neuen Wegen.“ Man liest das versteinert, schon aus Altersgründen.
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