Gott, die letzte Leerstelle Als die Feministinnen um mich herum aus der Kirche austraten, blieb ich und fand zu Gott. Es war nicht leicht, ihn nach 4.000 Jahren Patriarchat wieder freizulegen. VON ANTJE SCHRUPP |
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| | Gott muss weder Vater noch Herr sein. Vielleicht ist es eher der Name für ein Gegenüber, ein Außerhalb, eine Leerstelle, ein Jenseits. © William Farlow/unsplash.com |
Religion, davon bin ich überzeugt, ist in erster Linie Zugehörigkeit, nicht bewusste Zustimmung zu einer Doktrin oder einem Glaubensprogramm. Einer Religion tritt man nicht bei, man wird in sie hinein geboren. Ich zum Beispiel bin zwar von zuhause aus kein religiöser Mensch – meine Familie ist nicht sonderlich kirchenverbunden, ein Teil sogar atheistisch. Aber es gab bei uns im Dorf keinen Kindergarten. Der Kindergottesdienst am Sonntagmorgen war die einzige Möglichkeit, Zeit mit anderen Kindern zu verbringen. Ich kam also aus sozialen Gründen zur Kirche und blieb dann da.
Die theologischen oder spirituellen Inhalte ließen mich eher kalt. Gottesdienste fand ich langweilig, gebetet habe ich nicht. Einmal sollten wir in der Jugendgruppe über Auferstehung diskutieren, und ich äußerte die Idee, "Auferstehung" sei vielleicht, wenn sich nach unserem Tod andere Menschen an uns erinnern. Der Seminarleiter war aufgebracht. Das sei ja wohl banal und hätte mit dem christlichen Auferstehungsglauben nichts zu tun. Erklären konnte er den allerdings auch nicht. Mir war die Auferstehung aber sowieso egal, ich glaubte nicht an Wunder.
Trotzdem entschied ich mich, Theologie zu studieren. Aber nicht einmal das hatte mit einem bewussten Glauben an Gott zu tun, sondern eher mit der Idee, dass Pfarrerin doch ein recht schöner, nämlich ein sozialer und vielseitiger Beruf wäre. Und hatten nicht viele berühmte Leute irgendwann mal Theologie studiert? In gewisser Weise war ich eine Atheistin, nur ohne mich so zu nennen. Ich benutzte zwar das Wort "Gott", aber als Floskel, als eine Art innerkirchliches Erkennungszeichen. Bedeutet hat es mir nichts.
Mit dieser Einstellung kam ich mir übrigens weder in meiner Gemeinde noch unter meinen Mitstudierenden fremd vor. Ungläubig zu sein war kein Problem, auch für andere nicht. Rückblickend erkläre ich mir das so, dass in Wirklichkeit auch damals schon kaum noch jemand an einen "Gottvater den Herrn" glaubte, der von oben herab seine Fäden zog. Es machte sich aber auch niemand die Mühe, ihn tatsächlich vom Thron zu stoßen. Das religiöse Patriarchat war, zumindest in den Szenen, in denen ich mich bewegte, faktisch schon abgeschafft, aber symbolisch noch in Kraft. Gott war ein Zombie.
Dann kam die feministische Theologie. Ich lernte sie in den 1980er Jahren im Studium kennen. Sie machte dem alten Herrn mit Bart den Garaus und kämpfte gegen seine eingefleischten Fans. Das machte die christliche Tradition für mich nun endlich ein bisschen interessant: vergessene Frauengestalten, verfälschende Bibelübersetzungen, unentdeckte Geschichten aller Art. Allerdings: Zum Glauben geführt hat mich auch die feministische Theologie nicht. Sie lehrte zwar, was Gott nicht ist, aber einen positiven Zugang dazu konnte auch sie mir nicht vermitteln.
Gleichzeitig wurde mir klar, wie frauenverachtend große Teile der christlichen Geschichte und des Personals der Kirche waren. Konnte man es als redlicher Mensch eigentlich noch verantworten, in der Kirche zu sein? Viele Feministinnen traten damals aus. Ich hing nur mein Theologiestudium an den Nagel, wandte mich von der Theologie ab und der Politikwissenschaft zu.
Und dann fand ich Gott. Das klingt jetzt pathetisch, war aber so. Anfang der 1990er Jahre lernte ich italienische Feministinnen kennen, die die Freiheit der Frauen nicht über die "Gleichstellung" mit den Männern erreichen wollten, sondern über die freie Verbindung mit anderen Frauen. Dabei bezogen sie sich immer wieder auf dieselben Denkerinnen vergangener Jahrhunderte: Margarete Porete, Teresa von Avila, Simone Weil, Hannah Arendt, Etty Hillesum. Diese Frauen sprachen in ihren Texten wie selbstverständlich von "Gott". Und während ich mich mit ihrem Denken beschäftigte, nahm "Gott" für mich langsam Gestalt an. Ich wusste zwar nicht, was das sein sollte. Aber diese Frauen hatten offensichtlich etwas vor Augen, wenn sie diesen Begriff benutzten. Sie nahmen Bezug auf etwas, auch wenn ich dieses Etwas nicht sehen konnte.
Gott ist nicht Platzhalter für das Allmächtige
Ich fing sozusagen an, "über Bande" von Gott zu sprechen. Ich benutzte das Wort für das, was diese Denkerinnen, deren Ideen mich interessierten, meinten, wenn sie "Gott" sagten. Sicher war nur: Dieses "Gott" war nicht der alte Vater-Herr, den ich ohnehin nie richtig ernst genommen hatte. Eher war es der Name für ein Gegenüber, ein Außerhalb, eine Leerstelle, ein Jenseits. Für das Andere, ohne das es unmöglich ist, im Hier und Jetzt frei zu sein.
Ich verstand: Wenn ich den Universalismus der absoluten Wahrheiten verlasse, wird auch Gott aus dem Korsett der absolutistischen patriarchalen Ordnung befreit. Gott ist nicht Platzhalter für das Letztgültige, Wahre, Allmächtige, Gott steht nicht für den größten aller großen Zampanos, sondern für das Unverfügbare, den Unterschied, die Differenz als solche. Gott ist das Wissen, dass "dies hier" nicht alles ist, das Vertrauen darauf, dass es "Anderes" gibt, über das ich nicht verfügen, zu dem ich mich aber in Beziehung setzen kann.
"Gott", so verstand ich, ist kein "Etwas", das existieren könnte oder nicht und an das man glauben kann oder nicht. Sondern Gott gibt es, weil Menschen eine Beziehung zu "Gott" eingehen, so wie die Frauen, deren Texte ich las. Oder, wie Etty Hillesum angesichts des Holocaust in ihr Tagebuch schrieb: "Mit fast jedem Herzschlag wird mir klarer, dass du uns nicht helfen kannst, Gott, sondern dass wir dir helfen müssen und deinen Wohnsitz in unserem Inneren bis zum Letzten verteidigen müssen."
Könnte ich auch eine Beziehung zu Gott haben, ohne dass ich sie sehe, ohne dass sie mir hilft? Was als bloße Imitation der Worte jener Frauen angefangen hatte, erwies sich für mich zunehmend als nützlich. Ich finde es zum Beispiel nützlich, von Gott zu sprechen, ein Wort zu haben für das Phänomen der absoluten Differenz, für das letztlich Unverfügbare, für die Option eines "Leap of Faith", wenn alles ausweglos erscheint. Gerade in schwierigen, ja unzumutbaren politischen Zeiten wie diesen halte ich mich an das Motto, das Teresa von Avila ausgegeben hat: Man soll immer tun, was man kann, und für den Rest auf Gott vertrauen. Ich kann mir zum Beispiel kaum noch vorstellen, wie es ist, wenn man von diesem Motto nur den ersten Teil zur Verfügung hat. Wie könnte ich in dieser Welt tun, was ich kann, wenn ich nicht darauf vertrauen würde, dass Gott sich um den Rest kümmert? Wie würde ich dann nicht resignieren oder unter der Last der Verantwortung zusammenbrechen?
Aber, um zum Anfang zurückzukehren: Das ist vermutlich reine Gewohnheit. So, wie mein Leben verlaufen ist, bin ich von klein auf gewohnt, von "Gott" zu sprechen, weil ich zufällig als Vierjährige in den Kindergottesdienst kam. Ich habe ihn nicht wie viele andere im Studium entrüstet von mir gewiesen, weil ich zufällig dort die feministische Theologie entstand. Und ich konnte ihn mir tatsächlich aneignen, weil ich den politischen Ideen von Frauen begegnet bin, für die "Gott" ein normales Wort war, und die interessante und mir plausible Dinge darüber sagten. Ich kann aber gut verstehen, wenn andere Menschen mit anderen Lebenswegen und anderen Zufällen "Gott" schlicht für überflüssig, übergriffig, autoritär, eine Zumutung halten.
Luisa Muraro, eine nicht gläubige Philosophin und vielleicht diejenige Denkerin, von der ich am meisten über Gott gelernt habe, sagte einmal: "Die größte Sünde der Männer war es, sich den Frauen gegenüber an die Stelle Gottes zu setzen. Und die größte Sünde der Frauen war, dass sie das zugelassen haben." Angesichts der jahrhundertelangen patriarchalen Tradition des Gottesglaubens in unserer Gesellschaft, muss man sich nicht wundern, wenn immer mehr Menschen mit diesem "Gott" nichts anfangen können. mehr noch: Man muss sich sogar darüber freuen.
Denn um zu Gott zu gelangen, ist es notwendig jene "Unverfügbare Leerstelle" wieder freizulegen, die durch 4.000 Jahre Patriarchat fast unauffindbar geworden ist. Ich selbst finde zwar, dass sich das lohnt. Aber es ist wohl Glaubenssache. Antje Schrupp ist Politikwissenschaftlerin, Journalistin und Publizistin. Sie beschäftigt sich vor allem mit der politischen Ideengeschichte von Frauen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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