Fünf vor 8:00: Die Türkei darf immerhin mitreden - Die Morgenkolumne heute von Michael Thumann

 
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FÜNF VOR 8:00
07.09.2018
 
 
 
   
 
Die Türkei darf immerhin mitreden
 
Beim Thema Syrien sind sich Deutschland und die Türkei einig: Die Idlib-Katastrophe muss verhindert werden. Doch entscheiden werden den Krieg Russland und der Iran.
VON MICHAEL THUMANN
 
   
 
 
   
 
   

Bei Katastrophenmeldungen aus Syrien schaut nach sieben Jahren Krieg kaum noch jemand auf, aber jetzt ist es höchste Zeit, wieder hinzusehen. In Syrien geht es in diesen Tagen erneut um das Leben von Millionen Menschen. Der Diktator Baschar al-Assad will die letzte von Regimegegnern gehaltene Region um Idlib erobern. Mitte der Woche begann die Offensive. Idlib ist eine sogenannte Deeskalationszone, in der viele Hunderttausende Flüchtlinge Schutz gesucht haben. Doch gehört es zum Wesen dieses Krieges, dass in Deeskalationszonen besonders gern eskaliert wird. Dort wähnt das Regime viele Feinde, die es Terroristen nennt.
 
Wie immer, wenn die Katastrophe schon absehbar ist, kommt die Frage: Kann man das Morden und die Massenvertreibung nicht verhindern? Die legte sich auch Heiko Maas vor und reiste am Mittwoch in die Türkei. Der türkische Präsident Erdoğan und sein Außenminister versuchen nämlich gerade, die Regimeoffensive zu stoppen. Schauplatz dafür ist Teheran. Dort treffen sich heute Recep Tayyip Erdoğan, Wladimir Putin und der iranische Präsident Hassan Ruhani, um über Krieg und Frieden in Syrien zu entscheiden.
 
Maas besuchte die Türkei unmittelbar vor der Konferenz. Wirklichen Einfluss kann das größte EU-Land derzeit nicht geltend machen. Die Deutschen haben sich nicht am Krieg zwischen syrischem Regime und Opposition beteiligt. In Syrien zählt, wer mit Truppen und Rüstung im Land kämpft, und das sind nun einmal Iran, Russland und die Türkei.
 
Die Türkei hat Druckmittel
 
In Ankara steht Maas am Mittwochabend neben dem türkischen Außenminister Mevlüt Çavuşoğlu. Ein durchaus freundliches Treffen: Deutschland will die Türkei als Schlüsselland in der Region wieder enger an Europa binden, die Türkei sucht in Europa Unterstützung im Streit mit Trump und dem Krieg an ihren Grenzen. Beim Thema Syrien sind sie sich einig: "Eine humanitäre Katastrophe in Idlib muss verhindert werden!", sagt Maas. Und Çavuşoğlu ergänzt: "Wir werden alles dafür tun, Russen und Iraner zu überzeugen!"

Die Türken, das weiß Heiko Maas, haben mehrere Druckmittel. Sie stehen selbst mit Soldaten in der Region Idlib, sie kontrollieren die Grenzen im Norden und Westen, sie haben die besten Drähte zur Opposition, über die Türkei versorgen Hilfsorganisationen die Region. Deshalb appelliert Maas an die Türken, auch deutschen Helfern besseren Zugang zu ermöglichen. "Deutschland ist bereit." Wenn Idlib fiele, würde das bitter nötig sein. Dann stellte sich auch sofort die Frage, wohin die womöglich mehr als eine Million Flüchtlinge aus Idlib gehen sollen. Erst in die Türkei. Und dann?  
 
Putin will einen Zeitlupensieg
 
Viel wird von dem Treffen in Teheran abhängen – und der Frage, ob Präsident Erdoğan die Russen und Iraner noch bremsen kann. Es ist ihm nicht gelungen, die dschihadistischen Gruppen in Idlib zum Rückzug zu zwingen. Ihre Präsenz ermöglicht es dem syrischen Regime, den gesamten Widerstand als "terroristisch" zu denunzieren. In die Kerbe schlägt auch der russische Außenminister Lawrow, der von "Hornissennestern voller Terroristen" spricht. Russland hält Militärmanöver im Mittelmeer ab und bombardiert bereits Städte in der Region. Ohne russische Luftunterstützung wird das Regime nicht siegen. Deshalb sagt Maas in Ankara, dass "vor allem Russland etwas tun muss", um die Katastrophe zu verhindern.
 
Aber will Putin etwas tun? Er muss sich entscheiden. Lässt er die Assad-Milizen auf Idlib los, ermöglicht er zwar die Wiedervereinigung Syriens zu den Bedingungen des Regimes. Als Reaktion aber werden die Türken und Europäer protestieren und Folter, Mord und Vertreibung anprangern, die zu Assads bevorzugter Befriedungsmethode gehören. Die Türken aber braucht Putin, um seinen Syrien-Gesprächsclub von Astana zu erhalten. Und er braucht sie und vor allem die Europäer, um irgendwann das Land wiederaufzubauen. Weder Türken noch Europäer würden aber nach einem brutal erzwungenen Triumph Assads helfen. Putin versucht daher, Assad auf einen Zeitlupensieg zu verpflichten: langsam voran, Verhandlungen vortäuschen, sicher gewinnen.
 
Die Konferenz von Teheran steht für die gewaltige Mächteverschiebung in der Region. Das Sagen haben Russland und Iran. Die Türkei kann mitreden. Die Europäer dürfen appellieren und am Ende Euro gegen Einfluss tauschen. Und die USA? Es gab mal eine Teheraner Konferenz, da wurde die Welt neu aufgeteilt. Damals, 1943, waren die Amerikaner die entscheidende Macht. Heute werden sie noch nicht mal gefragt.

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

THE ATLANTIC The Worst May Be Yet to Come in Syria
THE ECONOMIST No one can stop the coming bloodbath in Idlib
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.