»100 Jahre in 100 Bildern« »Das Schneckentempo ist das normale Tempo jeder Demokratie«, sagte
Helmut Schmidt einst gegenüber der ZEIT. Gar nicht im Schneckentempo nähert sich nun der 100. Geburtstag des verstorbenen Hamburger Ehrenbürgers: Seit Freitag zählt die
Bundeskanzler-Helmut-Schmidt-Stiftung 100 Tage rückwärts. Die lange Fensterfront ihres Hauptsitzes am Kattrepel versieht sie aus diesem Anlass mit großflächigen Motiven. Sie kündigen zwei Ausstellungen an: zum einen die Fotoshow
»100 Jahre in 100 Bildern«, die am 7. Dezember eröffnet, eine »bunte Mischung« aus privaten Kindheitsfotos und Bildern der politischen Karriere Schmidts zeigt. Darunter sind der Stiftung zufolge noch unbekannte Zeitdokumente. Zum anderen ist eine Dauerausstellung über Helmut Schmidt geplant, die im Jahr 2020 eröffnen soll.
»Das wird kein Heimatmuseum«, betont Ulfert Kaphengst, Leiter der stiftungsinternen Medienabteilung. »Schmidt sagte ja selbst: Wir brauchen keine Denkmäler!« Vielmehr solle die Ausstellung die
Leitgedanken des Politikers in die Zukunft tragen und mithilfe interaktiver Angebote vor allem junge Menschen ansprechen. Warum das so wichtig ist? Schmidt habe auch nach seiner Amtszeit die Menschen erreicht, sagt Kaphengst. »Die Hamburger verehren und lieben ihn.« Am 23. Dezember wäre der 2015 verstorbene Staatsmann und Ex-ZEIT-Herausgeber 100 Jahre alt geworden.
Reichsbürger: »Hinter dem scheinbaren Irrsinn steckt System« Der Autor und Regisseur
Tobias Ginsburg hat sich undercover unter die Reichsbürger gemischt. Entstanden ist daraus das Buch
»Die Reise ins Reich: Unter Reichsbürgern«. Am Dienstag findet dazu mit Ginsburg im Mahnmal St. Nikolai eine Lesung und Diskussion statt. Mit uns hat er vorab gesprochen.
Elbvertiefung: Herr Ginsburg, Sie haben ein Jahr unter Reichsbürgern recherchiert, also unter Menschen, die die Bundesrepublik ablehnen und stattdessen behaupten, in einem Deutschen Reich zu leben. Wie sind Sie darauf gekommen?Tobias Ginsburg: Am Anfang war es in erste Linie morbide Neugier, das Interesse am Abgrund. In der Öffentlichkeit gab es das Bild von paradiesvogelhaften Irren, von dem auch ich ausging. Relativ naiv reiste ich zunächst in eine kuriose Reichsbürgersekte, das berüchtigte »Königreich Deutschland«. Es dauerte aber nicht lange, um zu erkennen, dass hinter dem scheinbaren Irrsinn ein System steckt, das auf rechtsextremen Ideen fußt. Es ist die Vorstellung, dass das deutschen Volk Opfer einer Weltverschwörung sei und die BRD kein echter Staat, sondern nur Teil dieses finsteren Komplotts. Und diese Idee hatten alte Nazis auch schon unmittelbar nach der Staatsgründung.
EV: Also wird die Bewegung unterschätzt?Ginsburg: Ich fürchte, das kann man so sagen. Es heißt von offizieller Seite, es gebe um die 17.000 Reichsbürger. Aber diese Zahl kann logischerweise nur die fassen, die sich auch offen zu erkennen geben, und das sind ganz wenige.
EV: Sind die Reichsbürger gefährlich?Ginsburg: Leider ja. Die unmittelbarste Gefahr geht sicherlich von labilen Menschen aus, die glauben, in Notwehr handeln zu müssen und sich und ihr Umfeld akut gefährden. Aber noch beunruhigender ist es, dass durch neurechte Bewegungen und die AfD derartige Wahnvorstellungen normalisiert werden und immer mehr Einzug ins Bürgertum halten. Das Unheimliche war ja, dass mich meine Reise vom Rand der Gesellschaft immer weiter in ihre Mitte geführt hat.
EV: Wie können Menschen so absurde Theorien glauben? Ginsburg: Verschwörungstheorien können verflucht attraktiv sein. Sie bieten einfache Erklärungen einer komplizierten Welt, unterteilen sie in Gut und Böse und geben ihren Anhängern das Gefühl, etwas Besonderes zu sein. Und eine Verschwörungstheorie kann man nicht mit Argumenten widerlegen. Man kann nicht beweisen, dass etwas nicht existiert. Wenn ich behaupte: Es gibt lila Schwäne, können Sie mir nicht beweisen, dass es sie nicht gibt. Genauso ist es, wenn man glaubt, dass Deutschland von ominösen finsteren Mächten regiert wird und alle Politiker nur Knechte dieser Mächte sind.
EV: Was kann man aus Ihrer Sicht dagegen tun?Ginsburg: Wir brauchen dringend eine Sensibilisierung für rechtsradikale Verschwörungstheorien. Die Gesellschaft muss lernen, was politische Meinung, rechte Gesinnung und Verschwörungstheorie unterscheidet. Man kann es den Leuten nicht ansehen. Wer einer Verschwörungstheorie anhängt, hat eben nicht immer eine kaputte Biografie und trägt eine komische Mütze. Er kann auch eine Krawatte tragen und erfolgreich sein.
EV: Sie sind Jude. Haben Sie sich Sorgen gemacht? Ginsburg: Wenn man als deutscher Jude aufwächst, weiß man leider nur zu gut, dass es Antisemitismus in Deutschland gibt. Aber zu sehen, in welchem Ausmaß noch immer wahnhafter Judenhass grassiert, das war dann doch erschütternd.
EV: Was war das Skurrilste, was Sie erlebt haben?Ginsburg: Ich könnte Ihnen Geschichten von Ufologen erzählen, die an Arier aus dem Weltall glauben. Aber das Skurrilste ist doch, wenn jemand im Bundestag sitzt und das Gleiche glaubt wie ein rechtsextremer Verschwörungsideologe. Oder wenn Neonazis zu verschwörungstheoretischen Veranstaltungen einladen und die normale Dorfbevölkerung kommt. Das Skurrilste ist, wie leicht es ist, diesen Wahn in die normale Gesellschaft hineinzutragen.
Tobias Ginsburg liest aus seinem Buch »Die Reise ins Reich: Unter Reichsbürgern« am Dienstag ab 19 Uhr im Mahnmal St. Nikolai, Willy-Brandt-Straße. Der Eintritt ist frei. Hier geht es zur Anmeldung.