Es begann nicht auf der Straße Im Umgang mit der deutschen Nazivergangenheit markierte Martin Walsers Rede in der Paulskirche eine Wende: Vor 20 Jahren verschob er die Grenzen des Sagbaren nach rechts. VON STELLA HINDEMITH |
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| | Applaus für Martin Walser im Oktober 1998 in der Frankfurter Paulskirche: Gerade hat der Schriftsteller in seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels die Vergangenheitsbewältigung der Deutschen und das geplante Holocaustmahnmal in Berlin kritisiert. © Arne Dedert/dpa |
Kurz bevor Martin Walser 1998 in der Frankfurter Paulskirche seine denkwürdige Rede über den deutschen Umgang mit dem Holocaust hielt, war mein Großvater gestorben. Ich hatte ihn vor seinem Tod noch einmal in seinem Haus in Berlin besucht. In meiner letzten Erinnerung an ihn steht er auf den Treppen, die auf das Haus zuführen, lässt sich zum Abschied von meiner Mutter umarmen, etwas steif, wie immer: "Vielleicht hatte Hans doch recht." Meine Mutter erklärte mir später, dass er damit auf einen Freund angespielt habe, der gesagt hatte, es gäbe keine Versöhnung zwischen Juden und Deutschen.
Die Neunzigerjahre waren von grundlegenden Debatten über den Nationalsozialismus und den Umgang mit ihm geprägt: Gestritten wurde über die Wehrmachtausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung, die deren Verbrechen im Zweiten Weltkrieg thematisierte, über Daniel Goldhagens Buch Hitlers willige Vollstrecker, die Verantwortung der Banken, die Entschädigung ehemaliger ZwangsarbeiterInnen und die Möglichkeit eines Holocaustmahnmals in Berlin. Jede dieser Debatten wurde flankiert von Forderungen, einen Schlussstrich unter die Auseinandersetzung zu ziehen. Parallel hierzu gab es einen populistischen Diskurs darüber, dass man endlich der deutschen Opfer gedenken solle, insbesondere der Bombardierten und Vertriebenen, die verbal in direkte Konkurrenz mit den Opfern der Nazis gerückt wurden. Populistisch war dieser Diskurs deshalb, weil alle schon lange über die deutschen Opfer redeten. Es ging in Wirklichkeit nicht darum, endlich über die deutschen Opfer zu sprechen. Es ging darum, endlich über die anderen Opfer zu schweigen und einen Weg zu finden, die Wut auf diese anderen Opfer zu kanalisieren. Inmitten dieser Debatten hielt Martin Walser seine Rede.
Mein Großvater hat Zeit seines Lebens und durch alle Wirren des 20. Jahrhunderts hindurch darauf bestanden, Deutscher und Jude zu sein. Er sprach von Heimatliebe – wegen Johann Sebastian Bach und dem Rhein. Ich verstand das nicht, auch wenn ich mit der Bachliebe sozialisiert wurde und am Rhein mit meinem ersten Freund eine schöne Fahrradtour machte. Ich verstand das Wort Heimat nicht, weil ich es in den Neunzigerjahren als ein aggressives Konzept kennenlernte, das allen Leuten entgegengebrüllt wurde, die nicht weiß waren oder auch einfach nur nicht nationalistisch. Während Nazis die Straßen und Plätze der ländlichen Räume beherrschten, wurde in den bürgerlichen Wohnzimmern der Großstädte darüber geredet, ob ein Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gezogen werden sollte. Ich stritt heftig mit meinen LehrerInnen, die behaupteten, wir SchülerInnen hätten genug von dem Thema und wollten uns normal fühlen. Das waren die widersprüchlichen Koordinaten meiner Gegenwart: die erklärte Heimatliebe meines re-immigrierten Großvaters, der hochrote Kopf meiner brüllenden Lehrerin, die am Wochenende Goldhagen gelesen hatte, die rassistische Gewalt auf der Straße. Ich begann, Zeitung zu lesen.
Und dann kam Martin Walser und vermaß entlang dieser widersprüchlichen Koordinaten die inneren Grenzen des Landes. Der Schriftsteller bekam 1998 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels und hielt anlässlich der Verleihung eine Rede, die eher einer Abrechnung als einer Dankesrede glich. Er sprach von einer beschuldigten Gesellschaft, der einflussreiche "Dichter und Denker" durch die Thematisierung rechter Gewalt wehtun wollten. Die Medien würden diesen als Instanzen des Gewissens angesehenen Menschen folgen und so oft über den Holocaust im Fernsehen berichten, dass er selbst angefangen habe, wegzuschauen. Durch die "Dauerpräsentation" des Holocausts solle der Gesellschaft eingeredet werden, sie sei nicht normal. Das Gedenken an den Holocaust sei ritualisiert und Auschwitz eine Moralkeule, die benutzt und instrumentalisiert würde, um bestimmte Interessen durchzusetzen – stattdessen solle das Erinnern dem Gewissen des Einzelnen überlassen werden. Das geplante Mahnmal für die ermordeten Juden Europas nannte Martin Walser "einen fußballfeldgroßen Alptraum", "die Monumentalisierung unserer Schande". Und schließlich verglich er durch eine Anspielung auf Hannah Arendts Beschreibung der Banalität des Bösen diejenigen, die sich für das Mahnmal einsetzten, mit Adolf Eichmann: "Wahrscheinlich gibt es auch eine Banalität des Guten."
Voller Misstrauen folgte ich in den Monaten nach Walsers Rede den Kommentaren in Radio und Zeitung, in denen angeführt wurde, warum Walser recht hatte. Mit der moralischen Autorität, die meist nur etablierten Autoren zugeschrieben wird, hatte er den Rahmen gesetzt, innerhalb dessen nun eifrig an den Grenzen des Sagbaren gezerrt wurde. Heute, da das Wort Populismus gebräuchlich geworden ist, kann das Unbehagen von damals im Rückblick leicht beschrieben werden: Walsers Rede und die ihr folgende Debatte waren ein Lehrstück des Rechtspopulismus – inhaltlich, formal und in ihrer Funktion.
Die Rede steckt voller Andeutungen, die aber nicht ausgeführt werden. Walser sagt gar nicht, dass ein Schlussstrich unter die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus gezogen werden soll – aber alle redeten anschließend über diesen Punkt. Wenn ihm vorgeworfen wurde, diese Debatte zu verantworten, antwortete der Dichter stets, das hätte er so nicht gesagt. Walser wurde durch die Rede einerseits zur Projektionsfigur offen nationalistischer und rechter Kreise (in rechtsextremen Zirkeln wurde seine Rede positiv rezipiert), gleichzeitig blieb er ein anerkannter Schriftsteller, auf den sich Intellektuelle und PolitikerInnen beriefen. So wurden auch die antisemitischen Implikationen der Rede in bürgerlichen Haushalten offen diskutiert, ohne dass jemand Anstoß daran nahm. Inhaltlich finden sich in der Rede viele Elemente, die heute zu den Kernthemen des Rechtspopulismus gehören: von der Forderung nach einem Schlussstrich unter der Geschichte über die Behauptung, das Mahnmal für die ermordeten Juden Europas sei eine Schande (Höckes Formulierungen sowie seine Forderung nach einer "erinnerungspolitischen Wende um 180 Grad" knüpfen hier an), über Medien, die als Handlanger einiger weniger auftreten ("Lügenpresse!") und eine kleine Gruppe Leute, die die Macht haben, den öffentlichen Diskurs zu manipulieren und "die Deutschen" in Geiselhaft nehmen (also: die Elite, die da oben, die Merkel, die Juden). Die Funktion der gewählten Rhetorik war es, die Grenzen des Sagbaren zu verschieben. Und Walser hatte Erfolg.
Wenn RechtspopulistInnen sich heute zur Stimme eines als homogen fantasierten Volkes stilisieren, dessen vermeintliche Interessen sie gegenüber einer abgehobenen Clique von Machthabern vertreten, indem sie behauptete Tabus brechen, dann hat das auch mit kulturell gut eingeübten Figuren des Antisemitismus zu tun. Historisch und gegenwärtig stecken hinter Bildern konspirativ agierender, elitärer Gruppen nämlich in der Regel Fantasien über Juden (heute wahlweise: Israelis), die mindestens Deutschland und seine Medien, wenn nicht gleich die ganze Welt kontrollieren. Behält man diese Figur im Auge, erklärt sich, warum Walser schrieb, er würde "vor Kühnheit zittern": Die Rede suggeriert den Bruch eines Tabus, welches von einem mächtigen Gegner geschützt wird. Einzig Walser, der mutige Einzelkämpfer, bringt die Kraft auf, sich dem vermeintlichen Erwartungsdruck der Mächtigen zu widersetzen und die unbequeme Wahrheit auszusprechen. Mit dieser Selbstinszenierung gerät jede/r KritikerIn seiner Aussagen in die Position der UnterdrückerIn ebenjener Wahrheit – eine rhetorische Finesse, der sich RechtspopulistInnen auch heute gern bedienen. "Aber in welchen Verdacht gerät man, wenn man sagt, die Deutschen seien jetzt ein normales Volk, eine normale Gesellschaft?" Walser lässt diese Frage in seiner Rede offen – er kann es auch, denn die Antwort kennt sowieso jede. Was Walser außerdem offen lässt: wer diesen wirkungsmächtigen Verdacht eigentlich hegt. Wer sind die Menschen, die den Holocaust instrumentalisieren, ihn für ihre politischen Interessen missbrauchen und die Deutschen damit geißeln?
Eine bürgerliche Erfindung
Problematisch scheint der Holocaust in Walsers Rede vor allem deshalb zu sein, weil er das Nationalempfinden der Deutschen stört – genau hier traf Walser tatsächlich einen Nerv und zwar vor allem aufgrund der vielen vagen Andeutungen in der Rede, die es so schwer machten, sie anzugreifen. Ignatz Bubis, damaliger Präsident des Zentralrats der Juden, bezeichnete die Rede als geistige Brandstiftung und wurde danach heftig in die Schranken gewiesen von entsetzten Kommentatoren, die darüber rätselten, ob Bubis klar sei, wie verletzend seine Aussagen für Deutsche seien. Währenddessen sinnierte Rudolf Augstein im Spiegel darüber, dass die Entschädigungsforderungen jüdischer ZwangsarbeiterInnen zu hoch seien und Deutschland endlich aufhören müsse, sich von außen, also von den Juden, reinreden zu lassen in seine Gedenkpolitik (Augstein lehnte folgerichtig auch das geplante Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin, das letztlich 2005 eröffnet wurde, als "Schandmal" ab).
Walsers Rede ist heute – genau 20 Jahre nachdem sie gehalten wurde – von besonderer Relevanz. Zum einen markiert sie einen Wendepunkt in der Debatte um die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und ihrer Bedeutung für die heutige Gesellschaft. Wer damals ihre antisemitischen und nationalistischen Konnotationen wahrgenommen hat, bekam einen ersten Eindruck von dem Problem, dass jetzt über uns zusammenzubrechen droht. Die Grundlage des rechtspopulistischen Erfolgs heute ist der dumpfe Nationalismus und Chauvinismus, der in den vergangenen Jahrzehnten in beiden deutschen Staaten verharmlost wurde und sich seit den Neunzigerjahren Stück für Stück deutlicher artikulierte.
In diesem Prozess markiert Walsers Rede eine Zäsur. Und trotzdem erwecken die Diskussionen über den Rechtspopulismus manchmal den Eindruck, als sei dieser von der AfD erfunden worden beziehungsweise anlässlich der Ankunft von Geflüchteten 2015 entstanden. Vielleicht liegt das daran, dass Antisemitismus – insbesondere in seiner Form der Abwehr der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Behauptung, diese würde für jüdische oder israelische Interessen missbraucht – so wenig wahr- und ernst genommen wird. Die Debatte um Walsers Rede jedenfalls bildete die Grundlage für eine fundamentale Verschiebung des Sagbaren, die sowohl die großen antisemitischen Skandale Anfang der Nullerjahre um die Politiker Jürgen Möllemann und Martin Hohmann als auch den späteren Erfolg der in erster Linie rassistischen Publikationen von Thilo Sarrazin möglich machte.
Der Rechtspopulismus wurde nicht auf der Straße erfunden, auch nicht von den viel zitierten Wutbürgern. Er kommt auch nicht allein aus dem Osten oder von den Wendeverlierern, auch wenn er hier vielleicht besonders viel Resonanz erfährt. Der Rechtspopulismus ist lange und hartnäckig erdacht, nicht zuletzt von Intellektuellen und Politikern aus dem Westen. Seine bürgerlichen ArchitektInnen heißen Walser, Hohmann, Möllemann, Sarrazin oder Steinbach. Und er ist verwurzelt in der Abwehr der Verantwortung für den Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden Antisemitismus. Der Erfolg des Rechtspopulismus – auf der Straße wie in den Parlamenten – wird nicht verstehbar werden, wenn seine Entstehung nicht beachtet wird.
Im Gegenteil: Solange die Debatte auf das Jahr 2015 fokussiert ist, geht sie dem rechtspopulistischen Mythos auf den Leim, der behauptet, das "Volk" würde sich wehren. Und während wir noch dabei sind, Hass und Chauvinismus in pseudo-psychoanalytischen Theorien über Verluste nach der Wende in Sorgen und Ängste umzuinterpretieren, fantasiert knapp 20 Jahre nach der Paulskirchenrede Horst Seehofer, Bundesminister des Innern und für Heimat, öffentlich darüber, an den rassistischen Demos in Chemnitz teilzunehmen – und fällt damit der demokratischen Zivilgesellschaft in den Rücken, die versucht, den öffentlichen Raum vor Gewalt zu schützen.
Manchmal bin ich froh, dass Menschen wie Bubis oder mein Großvater diese Entwicklungen nicht mehr mitbekommen. Die gewaltvolle, chauvinistische Implikation des Begriffs Heimat, die in den Neunzigerjahren vor allem von denen wahrgenommen wurde, die von Nazis durch die Straßen gejagt wurden, wird zunehmend institutionalisiert. Dafür tragen nicht zuletzt Angehörige der kulturellen und politischen "Elite" wie Martin Walser die Verantwortung. Stella Hindemith studierte Kultur- und Literaturwissenschaften in Berlin. Sie arbeitet für verschiedene NGOs zu Antisemitismus, Gender und Rechtsextremismus, außerdem als Dramaturgin in Projekten kultureller Bildung. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich. |
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