10 nach 8: Heike-Melba Fendel über Debattenkultur

 
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12.09.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Wortmüllhalden des Sprachkapitalismus
 
Einst redeten die Frauen und die Männer schwiegen vor sich hin. Jetzt gibt es zwei plappernde Geschlechter. Hilft das irgendwem weiter?
VON HEIKE-MELBA FENDEL

Auf der Wortmüllhalde: Es ist nie genug gesagt, jeder darf und kann und soll. © Menahem Kahana/AFP/Getty Images
 
Auf der Wortmüllhalde: Es ist nie genug gesagt, jeder darf und kann und soll. © Menahem Kahana/AFP/Getty Images
 
 

Sind Sie in Köln verloren gegangen und fragen einen Passanten nach dem Weg, freut der sich in der Regel sehr: "Jaaaah, der Brüsseler Platz, warten Sie mal, doch, der muss da hinten links … neee, warten Sie mal, da vorne rechts und dann … neee, warten Sie mal …" In der Regel wird er eine weitere ahnungslose Person heranwinken: "Hören Sie mal, die junge Frau sucht den Brüsseler Platz …" Die wird sich ihrerseits Verstärkung bei einem weiteren, äußerst vermutungsbereiten Nicht-Wissenden suchen. So geht es munter weiter, bis sich eine fröhliche Gruppe versammelt hat und Vorschläge macht, die Ihnen allesamt nicht weiterhelfen. Aber hey – man hat miteinander geredet und überhaupt, der Weg ist das Ziel und ansonsten: Alles Gute, bis zum nächsten Mal!

Wenn das Internet ein Mensch wäre, dann tränke, dächte und spräche es Kölsch: Viel Mühe gegeben, aber am Ende ein bisschen dünn. Wir in der Welt Verlorengegangenen glauben jedoch fest daran, dass dünn mal dünn irgendwie doch was Dickes ergeben könnte. Dass die Summe aller Leerformeln eine Wegbeschreibung ergäbe, die uns an einen guten Platz führte. Dass all die Postings, Blogeinträge und Kommentare, die Geschriebenen wie die Gelesenen, am Ende doch … ja was eigentlich? Sinn ergeben, Heimat bauen. An welchem Ende aber genau? Das Internet stirbt ja nicht und wenn doch, dann jede Minute ein so verschwindend kleines bisschen, dass der Abstand zu seinem endgültigen Aus sich entlang der Weiten des Universums und dessen Unendlichkeit bemisst.   

Worte und Sätze jedoch enden. Mit einem Leerzeichen die einen, mit einem Punkt die anderen. Alles, was wir zu sagen haben, endet mit einem Punkt, der die Leere nach unseren Worten abbindet. "Nun machen Sie aber mal einen Punkt!" Diesen Satz sagt eigentlich kaum noch jemand. Weil wir ja gar nicht aufhören sollen, sondern bloß innehalten, damit der andere uns seine Worte zwischen die Leerstellen schieben und seinen Punkt dahinter machen kann: "Lassen Sie mich bitte ausreden, ich habe Sie auch ausreden lassen." Wie das strapazierte Karl-Valentin-Bonmot, demzufolge alles gesagt sei, aber noch nicht von allen, unterstellt auch die Talkshow-Floskel vom Doch-bitte-mal-ausreden-lassen, dass man mit dem Sprechen einmal fertig werden könne. Eben weil "alles" gesagt sei oder man "ausgeredet" habe.

Es ist ja nie genug gesagt

Das verkennt den Sprachkapitalismus als Kommunikativsystem, in dem wir leben. Das Wesen dieses Kapitalismus – wie übrigens jedes anderen auch – wird durch die Abwesenheit eines Konzeptes von "genug" bestimmt. Das Sprechen erzeugt den Gesprächsbedarf, der sich mit dem nur scheinbar abschließenden Satz "Gut, dass wir drüber gesprochen haben" seiner selbst vergewissert. Weil es so gut war, muss und wird man es wieder tun: All das loswerden, was man ohnehin nie gebraucht hat.

Das Universum, das ja nicht nur unendlich ist, sondern bei dem man auch so allerhand bestellen kann, was Amazon nicht liefert, gibt bekanntlich keine Materie verloren. Was also passiert mit all den Worten, die wir losgeworden sind? Die wir entsorgt haben wie defekte Kühlschränke am Waldrand, die wir ausgesetzt haben wie Hunde an den Leitplanken der Autobahnen Richtung Ferienziel? Sie jaulen derart laut und herzzerreißend, dass wir ihnen – kommentierend, analysierend, belehrend – neue Gefährten an die Seite sprechen, bis wir selbst zu jaulenden Tieren werden, die sich Gehör zu verschaffen suchen, während demnächst womöglich selbstfahrende Fahrzeuge so stoisch wie ziellos an uns vorbeiziehen. Weil es kein Ziel mehr gibt außer jenem, dem Moment zu entrinnen, in dem das letzte Wort gesprochen sein wird. Denn, frei nach Fassbinder: Schweigen kann ich, wenn ich tot bin.

Schweigen ist out. Denn erstens ist Schweigen eine Vorkriegstugend: vor dem Weltkrieg, dem Generationenkrieg, dem Geschlechterkrieg. Und zweitens ist Schweigen eine Männertugend, und Männer sind ja auch irgendwie out. Der Western ist ihr Genre gewordenes Schweigen. Wortlos durch die Weite und die Hitze reiten, die Hand nach dem glühenden Colt tastend, einem stummen Plan folgend, demzufolge etwa Widersacher ihrerseits zum Schweigen zu bringen sind. Das waren die Zeiten, in denen Schweigen Gold war. Doch der Goldpreis ist äußerst volatil.

Das Schweigen der Männer – der Großväter, Väter, Ehemänner – ist seit Langem in Verruf geraten. Spätestens seit den 68er-Jahren steht es nicht mehr für Souveränität und Autonomie, sondern für Verschweigen von Schuld und Verweigern von Augenhöhe, von Gefühlen, von Dialog. Überlebt hat es allenfalls in Form von Hochleistungsschweigen im Rahmen teuer bezahlter Klosteraufenthalte. Die legitimieren, analog zu den Fastenkliniken, das Primat dessen, dem sie sich versagen: Essen muss man, reden muss man, und leisten können muss man es sich, das befristet zu unterlaufen.

Schweigen als Verschweigen, Reden als Zerreden

Ansonsten heißt es, auch für die einst besser schweigende Hälfte, also die Männer: Alles muss raus. In die Tweets, die Postings, die Blogs, die Sitzungen beim Paartherapeuten und die Satzungen der Eigentümergemeinschaften. So sind Männer zur weltweit größten kommunikativen Schwellenökonomie avanciert: Ihre Wortproduktion nähert sich rapide jener der Frauen an. (Und das nahezu eigenhändig, denn nach Diktat verreist im Grunde niemand mehr.) Mit erheblicher Auswirkung auf das Gleichgewicht zwischen Worten und Taten: Das Beschreiben frisst das Beschriebene.

Das beim weiblichen Publikum erfolgreichste Genre, die romantische Komödie Rom-Com (und ihre deutlich elegantere Vorläuferin, die Screwball Comedy), macht das augenfällig. Sie lässt sich als Gegenstück zum Western beschreiben: Niemand stirbt und alle reden. Ein Geschlechtsverkehrherauszögerungsgenre, ein Film gewordenes Vorspiel, das endet, wenn es zur sogenannten Sache geht. Zwischen Schweigen als Verschweigen und Reden als Zerreden taumeln die Worte im Uneigentlichen ihrer selbst verfassten Erfolgsgeschichte. Das Handeln verkümmert zwischen seiner wortreichen Ankündigung und seiner vielstimmigen Bewertung zum waidwunden Gesprächsanlass. Der Gnadenschuss ereilt es dann in Form des Satzes: "Das hatten wir doch schon."

Gemeint ist: "Darüber haben wir doch bereits gesprochen", aber vor allem: "Das müssen wir doch jetzt nicht noch tausendmal durchkauen." Entlang dieser rhetorischen Steilvorlage erzielen die Debatten ihren mal geplanten, mal unterlaufenen Elfmeter: Sie zielen und treffen ins Leere ihrer Worthülsen. Die Verwortung der Welt führt in Apathie und Stagnation. Wenn kollektiv kein Bock mehr auf ein vielstimmig beschriebenes Dilemma besteht, ändert sich nichts bis wenig und jene, die weiter um Veränderung streiten, sind irgendwie "so last season".  

Wie wäre es wieder mit Gesten?

Paradoxerweise sind es gerade die Intensität und Dringlichkeit und die damit einhergehende Wortflut, die jene Ermüdung erzeugen und somit das Handeln und den Fortschritt, den sie ermöglichen könnten, verhindern. Es bleibt abzuwarten, ob etwa #MeToo, also eines der am wortreichsten geführten Aufbegehren unserer Zeit, eine Folgenschwere erfahren wird. Oder ob es ins Endlager der Nicht-schon-wieder-Themen entsorgt wird. Weil es eben nicht um die Themen selbst geht, sondern die Wortflut selbst, die sich im Rahmen neuer Empörungsformulierungen aktualisieren und updaten lässt: Das Undiskutierte kritisiert das Diskutierte.

Und nun? Auch dieser Text beklagt redend das Reden. Nur ungeschriebene Texte, nicht geführte Gespräche und für sich behaltene Erkenntnisse wären in der Lage, die Wortmüllhalden wenn schon nicht abzutragen, so doch fürs Erste auf hohem Niveau zu stabilisieren. Wie viel Anachronismus im Geiste von Helmut Schmidts "autofreiem Sonntag" wäre dieses Anliegen einer produktiven, zeitlich begrenzten Verstummung einer in selbstvergessenem Geplapper erstarrten Gesellschaft noch wert? Als Billy Wilder die einstige Stummfilmdiva Gloria Swanson in seinem Sunset Boulevard über ihre längst vergangene, große Zeit sagen ließ: "Wir brauchten keinen Ton, wir hatten noch Gesichter", da waren aus diesen Gesichtern ja auch längst Talking Heads geworden.

Vielleicht versöhnt ein kleines Lob der Geste: Am Flughafen im sizilianischen Catania plagte sich eine junge Frau mit mehreren, augenscheinlich sehr schweren Gepäckstücken. Sie wuchtete sie auf eine Sitzbank und starrte sehnsüchtig Richtung Cafeteria und unwillig auf ihren Ballast. Der Hunger überwog und sie bewegte sich, den Kopf krampfhaft Richtung Gepäck gedreht, zum Tresen. Ein Mann, wahrscheinlich ein Italiener, blickte sie an, hob die Hand vor seine Augen und machte mit abgespreiztem Daumen und Zeigefinger eine einzige kleine Bewegung, als adjustiere er die Schärfe an einer Kamera.

Sie begriff, holte erleichtert ihr Essen, um anschließend mit vollem Tablett auf ihn zuzugehen und sich überaus wortreich für seine freundliche Bereitschaft, ihre Sachen zu beaufsichtigen, zu bedanken. Er nickte stumm. Sie wollte gar nicht mehr aufhören, konnte sich kaum beruhigen, dabei war doch alles längst gesagt. Wahrscheinlich eine Kölnerin.

Heike-Melba Fendel ist Autorin und Inhaberin der Künstler- und Veranstaltungsagentur Barbarella Entertainment. Sie lebt in Köln und Berlin. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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