Freitext: Stephan Lohse: Magda bummelt

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

19.09.2018
 
 
 
 
Freitext


 
Magda bummelt
 
Frau Thannert liegt im Bett und erinnert sich. An früher, ihre Jugend, an alte Gerüche und ihr vergangenes Glück. Draußen ist Sommer – oder hat es schon geschneit? Eine Erzählung.
VON STEPHAN LOHSE

 
© David von Diemar/unsplash.com
 

Magda streckt den Hals. Lichtstreifen, Schattenstreifen. Ein Gefängnis an der Decke und keine Aussicht. Vor dem Fenster Lamellen, steif wie Hemdkragen. Auf dem Tisch ein Weihnachtskaktus, die Triebe vertrocknet. Ist bereits Sommer? Wie ist das möglich? Sie müsste einen Wärter rufen und nach dem Schnee fragen.
 
Ein Duft in der Luft. Marillenknödel, das allerhöchste Glück. Marille, Erdäpfelteig, Brösel in Beurre Noisette. Die Dielen unter ihren Füßen dürfen nicht knarren, wenn sie den Knödel von Vaters Teller stiehlt. Sie sind frisch poliert. Selbst der Schmutz in den Fugen glänzt. Die Schwestern Dangl helfen im Geschäft aus, der Vater sucht in der Bibliothek seine Brille. Trude Dangl, zu Magdas Wartung bestellt, ist bärtig, Katharina Dangl, das Zweitmädchen zum Putzen, Waschen und Bügeln, eine kundige Lippenpfeiferin. Auf dem Teller Brösel und Beurre. Aber kein Knödel. In der Luft nur ein Duft. Jaschko, der Schuft.
 
Rumoren hinter der Tür. Blech klappert auf Blech. Dann geht eine Spülung. Magda trägt ein Bußgewand auf dem bloßen Leib, beige, mit aufgedruckten Kaffeebohnen. Wer trägt denn so etwas? Wo ist der Gürtel aus Schlangenimitat? Wo der Rock aus rotem Chiffon? Wo, verdammt noch mal, ist das gefütterte Cape? Der Schnee scheint geschmolzen zu sein. Zwischen den Lamellen erkennt Magda jetzt Sommerrasen. Grün wie Jägerloden.
 
Licht flackert von der Decke. Ein Wärter tritt ans Bett. „Guten Abend, Frau Thannert, dann wollen wir mal.“ Er trägt die weißen Handschuhe eines Hausdieners. Vorsichtig fasst er unter die Decke und beginnt, ihr Bein zu bewegen. Nein, nicht ihr Bein. Es ist. Ihr Bein. Nein. Am Schein-Bein den Fuß nennt man Hand. Geädert und bleich ragt er aus dem Gewand. Liegt schlaff und wie tot auf des Bettes Rand. Tot und gestorben und dennoch warm. Was hast du gedacht? Das Bein heißt Arm.
 
„In Ihrem Alter und noch so beweglich.“
 
„Yoga“, murmelt Magda, und es scheint ihn zufriedenzustellen. Er verlangt, dass sie ihr Knie, tatsächlich ihr Knie, gegen seinen Handballen presst. Es gelingt ihr tadellos.

...


Den ganzen Freitext lesen Sie auf ZEIT ONLINE.

Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
  VERLAGSANGEBOT
Lesegenuss pur!
Lesegenuss pur!
Lernen Sie jetzt DIE ZEIT als E-Paper, App, Audio und für E-Reader kennen! Lehnen Sie sich zurück und erleben Sie die neue Art des ZEIT-Lesens. Mehr erfahren >>