Fünf vor 8:00: Die wahren Ängste der Deutschen - Die Morgenkolumne heute von Mark Schieritz

 
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FÜNF VOR 8:00
17.09.2018
 
 
 
   
 
Die wahren Ängste der Deutschen
 
Umfragen zeigen, dass die meisten Bürger in ihrem Umfeld keine Probleme mit Migranten haben. Ist also die Debatte über Migration aufgebauscht? So einfach ist es nicht.
VON MARK SCHIERITZ
 
   
 
 
   
 
   

In diesen Tagen macht eine Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen für das aktuelle Politbarometer des ZDF die Runde. In dieser Umfrage werden die Teilnehmer gefragt, ob es in ihrer Gegend mit Flüchtlingen große Probleme gebe. Eine überwältigende Mehrheit – 84 Prozent im Westen und 72 Prozent im Osten – antwortet mit Nein.
 
Ist also die Debatte der vergangenen Monate eine einzige Gespensterdebatte?
 
Man sollte es sich nicht so einfach machen. Aus der Tatsache nämlich, dass die meisten Menschen in ihrer Gegend nicht von Problemen mit Flüchtlingen berichten können, lässt sich nicht schlussfolgern, dass die Menschen das Thema Flucht und Migration nicht als Problem ansehen. Genau so, wie die meisten Menschen in Deutschland den Klimawandel als Problem einschätzen, obwohl sie selbst in ihrer Gegend seine Auswirkungen – wenn man von diesem Dürresommer einmal absieht – bislang noch nicht zu spüren bekommen haben.
 
Es geht also nicht nur darum, welche Probleme Menschen bereits konkret erfahren, sondern mindestens ebenso so sehr darum, was ihnen wichtig ist, womit sie sich beschäftigten, was ihnen Sorgen macht. Umfragen, die das herauszufinden versuchen, liefern ganz andere Ergebnisse als jene der Forschungsgruppe Wahlen.

In einer Studie der R+V Versicherung geben zwei Drittel der Bundesbürger an, sie machten sich Sorgen, dass die Zahl der Flüchtlinge die Behörden überfordert und sich das Verhältnis zwischen Ausländern und Einheimischen verschlechtert. Auf der Rangliste der größten Ängste steht das Migrationsthema an zweiter Stelle – gleich nach der Furcht, dass Donald Trump die Welt mit Krieg überzieht. Das lässt die große öffentliche Aufregung beim Thema Zuwanderung schon berechtigter erscheinen.
 
15 Prozent dürfen nicht die Agenda diktieren
 
Vielleicht haben beide Umfragen Recht. Im Alltag haben die meisten Deutschen wahrscheinlich, wie es die Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen nahelegt, tatsächlich andere Probleme als die Flüchtlinge. Wenn es an deutschen Schulen genug Lehrer gäbe, wenn in den Städten wieder günstige Wohnungen zu finden wären, wenn die Straßen nicht mehr verstopft wären und das Internet endlich auch in der Provinz ordentlich funktionierte, dann hätten es die radikalen Kräfte schwerer. Wer das Gefühl hat, dass das System ganz gut funktioniert, der wählt keine Partei, die das System abschaffen will.
 
Und man muss sich von einer Minderheit – die AfD kommt in der aktuellen Umfrage der Forschungsgruppe Wahlen auf 15 Prozent – auch nicht die Agenda diktieren lassen. Es wird in Deutschland wie in fast allen westlichen Ländern immer einen bestimmten Prozentsatz von Menschen geben, die das Grundrecht auf Asyl ebenso ablehnen wie eine pluralistische Gesellschaft. Sie sollen wählen, wen sie wollen, der Rest ist Sache des Verfassungsschutzes.
 
Ein neues Politikfeld
 
Aber: Die Migrationsfrage ist aber nicht zu einem allgemeinpolitischen Thema geworden, weil in Deutschland die Brücken verrotten oder ein paar Ewiggestrige ihre völkischen Fantasien ausleben. Sie konnte diese Bedeutung erlangen, weil viele Menschen das Gefühl haben, dass es bislang an Konzepten fehlt, um mit einer Jahrhundertaufgabe – Flucht und Migration in einer globalisierten und in Teilen sozialstaatlich verfassten Welt – einigermaßen angemessen umzugehen.
 
Mit anderen Worten: Wie im Fall der Ökologie in den Achtzigerjahren ist ein neues Politikfeld entstanden – und Angela Merkels Flüchtlingspolitik aus dem Jahr 2015 hat sicherlich nicht dazu beigetragen, die Zuversicht in die staatliche Lösungskompetenz in diesem Bereich zu stärken.
 
Merkel hat ihre Politik inzwischen bekanntermaßen unter dem Druck der Ereignisse revidiert, was vielen Attacken auf sie den sachlichen Grund entzieht. Aber wenn Vertrauen erst einmal weg ist, ist es schwer, es wieder aufzubauen.

 


 
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