Fünf vor 8:00: Die letzten Schranken einer barbarischen Kriegsführung - Die Morgenkolumne heute von Matthias Naß

 
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FÜNF VOR 8:00
19.09.2018
 
 
 
   
 
Die letzten Schranken einer barbarischen Kriegsführung
 
Nach dem Russland-Türkei-Deal scheint die Frage nach einer deutschen Beteiligung in Idlib abgewendet. Eine Abschreckung gegen einen Giftgaseinsatz braucht es trotzdem.
VON MATTHIAS NASS
 
   
 
 
   
 
   

Aus Sotschi kam Anfang dieser Woche eine gute Nachricht: Russlands Präsident Wladimir Putin und der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan vereinbarten, in der syrischen Provinz Idlib eine entmilitarisierte Zone einzurichten, die Rebellen und Regierungstruppen trennen soll. Auf diese Weise könnte die befürchtete Schlacht um Idlib vielleicht noch verhindert werden. Nichts wäre den drei Millionen Menschen dort mehr zu wünschen als die Abwendung neuer Kämpfe.
 
Hat sich damit die Grundsatzfrage erledigt, die in Deutschland vorige Woche aufgeflammt war? Die Frage nämlich, ob Deutschland zu einer Beteiligung an einer gemeinsamen Militäraktion des Westens bereit wäre, sollte Baschar al-Assad in Idlib Giftgas einsetzen. Die USA waren mit diesem Wunsch in Berlin vorstellig geworden.
 
Andrea Nahles legte sich rasch fest. "Die SPD wird weder in der Regierung noch im Parlament einer Beteiligung Deutschlands am Krieg in Syrien zustimmen", erklärte die Partei- und Fraktionschefin der Sozialdemokraten. Aber so schnell und apodiktisch lässt sich diese Frage nicht beantworten.

Es gibt nicht viele Normen im tausendfach missachteten Kriegsvölkerrecht, auf die sich so viele Länder geeinigt haben, wie das Verbot chemischer Waffen. Schon 1925 unterzeichneten 36 Staaten das Genfer Protokoll über das "Verbot der Verwendung von erstickenden, giftigen oder anderen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Kriege". Der Chemiewaffenkonvention der Vereinten Nationen von 1993 sind bis heute 193 Nationen beigetreten. Damit umfasst der Vertrag 98 Prozent der Weltbevölkerung, wie Oliver Meier schreibt, sicherheitspolitischer Experte der Stiftung Wissenschaft und Politik.
 
Auch Syrien hat das Abkommen im September 2013 unterschrieben – aber erst, nachdem Barack Obama erwogen hatte, syrische Militäranlagen wegen eines Einsatzes chemischer Waffen zu bombardieren. Hunderte Menschen waren damals in der Region Ghuta östlich von Damaskus elendig gestorben, sie wurden Opfer des Giftgases Sarin. Der Bericht einer unabhängigen, von den Vereinten Nationen eingesetzten Untersuchungskommission stellte fest, dass Baschar al-Assads Luftwaffe für den Giftgasangriff verantwortlich war.
 
Obama machte seine Drohung nicht wahr, obwohl er den Einsatz von Chemiewaffen zuvor zur "roten Linie" erklärt hatte. Eine Fehlentscheidung, die Assad und seine Verbündeten Russland und Iran in ihrer brutalen Kriegsführung zusätzlich ermutigte.
 
Donald Trump hingegen reagierte sofort auf den nochmaligen Einsatz von Sarin durch Assads Luftwaffe. Am 6. April 2017 und am 14. April 2018 griffen die USA Stellungen der syrischen Armee an, beim zweiten Mal unterstützt von Frankreich und Großbritannien. Die Bundesregierung beteiligte sich nicht an den Angriffen; sie nannte die Aktion im April 2018 aber "erforderlich und angemessen".
 
Das Nein von Andrea Nahles auf die jetzige Voranfrage der USA stieß bei Angela Merkel auf Widerspruch. "Einfach zu sagen, wir könnten wegsehen, wenn irgendwo Chemiewaffen eingesetzt werden und eine internationale Konvention nicht eingehalten wird, kann auch nicht die Antwort sein", sagte die Bundeskanzlerin im Bundestag.
 
Sie hat Recht. Auch wenn dieser Krieg längst zugunsten Assads entschieden ist, weil sich Russland und Iran hinter ihn und seinen Kampf gegen das eigene Volk gestellt haben; auch wenn der Westen sieben Jahre lang schlimmsten Verbrechen tatenlos zugesehen hat; auch wenn nach 500.000 Kriegstoten und Millionen Vertriebenen nichts mehr gutzumachen ist – mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen wird eine rote Linie überschritten.
 
Chemiewaffen dürfen wie biologische und atomare Waffen kein Mittel der Kriegsführung werden. Wenn dieses Tabu aus den Erfahrungen des Ersten Weltkrieges nicht verteidigt wird, dann fallen auch die letzten Schranken einer Kriegsführung, die heute oft nichts anderes ist als Terror gegen die Zivilbevölkerung. 
 
Deutschland hat 2014 einen wichtigen Part gespielt, als es einen Teil der syrischen Giftgasbestände vernichtet hat, die vom Regime übergeben worden waren. Die technischen Fähigkeiten und Einrichtungen der Bundeswehr sind dafür hervorragend geeignet. Aber Assad hat die Staatengemeinschaft betrogen und entgegen seiner Beteuerungen größere Bestände an Chemiewaffen behalten. Mindestens zweimal hat er sie erneut eingesetzt, in Chan Scheichun 2017 und in Duma 2018.
 
Wer sagt, dass Assad sie nicht ein weiteres Mal einsetzen wird? Es gibt keine Schandtat, vor der er in diesem Krieg zurückgeschreckt ist. Deshalb stimmt, was Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen gesagt hat: Gebraucht wird eine "glaubwürdige Abschreckung" gegen den Gebrauch von Giftgas.
 
Wenn die Vereinbarung zwischen Putin und Erdoğan hält und es nicht zur Schlacht um Idlib kommt, dann muss über eine Beteiligung Deutschlands an einem militärischen Eingreifen aktuell nicht entschieden werden. Aber die Grundsatzfrage ist damit nicht aus der Welt: Kann es verantwortungsvolle deutsche Sicherheitspolitik sein, den Einsatz von Massenvernichtungswaffen, die von der gesamten Staatengemeinschaft geächtet worden sind, mit verschränkten Armen hinzunehmen? Wohl kaum.

 


 
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.