Einer der wichtigsten Lehrsätze der Wirtschaftspolitik lautet: Bekämpfe den Abschwung. Die Weltwirtschaftskrise der Dreißigerjahre hat schließlich gezeigt, dass der Verlust des Arbeitsplatzes nicht nur mit materieller Not für die Betroffenen einhergeht, sondern die politische Stabilität gefährdet. Adolf Hitler kam an die Macht, als in Deutschland mehr als fünf Millionen Menschen keinen Job hatten, bei einer Gesamtbevölkerung von knapp 70 Millionen Menschen.
In diesen Tagen ist zwar nicht Adolf Hitler, aber die AfD im Aufwind – und das, obwohl die Umstände nicht gegensätzlicher sein könnten. Deutschland erlebt derzeit so etwas wie ein zweites Wirtschaftswunder. Mit kurzen Unterbrechungen geht es nun schon seit mehr als zehn Jahren wirtschaftlich aufwärts. Die Löhne steigen, die Renten auch, die Staatsschulden sinken und das Geldvermögen der Bürgerinnen und Bürger wächst und wächst.
Der neuesten Konjunkturprognose des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung zufolge wird die Arbeitslosenquote in den kommenden zwei Jahren unter die Marke von drei Prozent fallen. Wir nähern uns allmählich dem Zustand der Vollbeschäftigung an.
Und trotzdem geht die Zustimmung für die Parteien zurück, die das Land regieren. Was ist da los?
Chemnitz und der Standortschaden
Die umstrittene Flüchtlingspolitik der Kanzlerin spielt mit Sicherheit eine Rolle, ebenso die Tatsache, dass der Wohlstand in Deutschland immer noch ungleich verteilt ist, dass die Mieten steigen und dass auch die besten Wachstumsraten nichts daran ändern, dass in deutschen Schulen Stunden ausfallen, weil es nicht genug Lehrer gibt.
Es spricht aber einiges dafür, dass es noch einen weiteren Grund für das Erstarken des Populismus – nicht nur in Deutschland – gibt: Wegen der außerordentlich guten Konjunkturlage haben auch die irrsinnigsten Politikansätze derzeit keine realwirtschaftlichen Konsequenzen.
Was damit gemeint ist: Der Populismus zeichnet sich dadurch aus, dass er einfache Antworten auf komplizierte Fragen gibt. Weil sich komplizierte Probleme aber nun einmal nicht einfach beantworten lassen, scheitern die Populisten in der Regel früher oder später an der Realität. Überzogene staatliche Ausgabenprogramme schieben die Inflation an. Eine übertrieben restriktive Einwanderungspolitik führt zu Fachkräftemangel. Strafzölle schaden der Exportindustrie.
Im Moment allerdings sind die konjunkturellen Auftriebskräfte so stark, dass der Ballast sie nicht hemmt. Das zeigt sich am eindrucksvollsten in den USA, wo Donald Trump mit Zöllen nur so um sich wirft, die Börse aber von einem Rekordhoch zum nächsten eilt. Es zeigt sich in Großbritannien, wo die Arbeitslosigkeit trotz Brexit-Risiken gesunken ist. Und es zeigt sich in Deutschland, wo die Warnungen führender Wirtschaftsvertreter, Ereignisse wie die Gewaltausbrüche in Chemnitz schadeten dem Standort, kaum Widerhall finden, weil es ja derzeit wirtschaftlich so wahnsinnig gut läuft.
Nun ist es natürlich zunächst einmal eine gute Sache, wenn es gut läuft. Aber womöglich wird dadurch ein Korrektiv neutralisiert, das für ein Gemeinwesen nicht unwichtig ist. In den vergangenen Jahren war viel davon die Rede, dass das Primat der Politik wiederhergestellt werden müsse. Das war nach dem Deregulierungswahn der Achtziger- und Neunzigerjahre auch eine wichtige Forderung. Aber wenn politische Richtungsentscheidungen überhaupt keine ökonomischen Konsequenzen mehr haben, dann ist das vielleicht auch keine so gute Idee, weil auf einmal sogar grober Unsinn möglich zu sein scheint.
Anders gesagt: Wenn Trump zum Beispiel durch sinkenden Börsenkurse signalisiert bekäme, dass willkürlich errichtete Handelsbarrieren der Wirtschaft schaden, dann würde er sich das mit den Strafzöllen vielleicht noch einmal überlegen. Und wenn ostdeutsche Kommunalpolitiker – und Wähler – damit konfrontiert wären, dass fremdenfeindliche Äußerungen die Standortentscheidung von Unternehmen beeinflussen, dann müssten sie sich entscheiden, ob sie lieber fremdenfeindlich oder beschäftigt sein wollen.
Wohlgemerkt: Das ist keine Forderung nach einer Bestrafung für politische Vorlieben. Wer eine populistische Regierung will und bereit ist, die Konsequenzen zu tragen, der soll eine populistische Partei wählen. Das Problem ist nur, dass diese Konsequenzen derzeit nicht zutage treten, weil der Aufschwung alles überdeckt.
Das verleitet Wählerinnen und Wähler möglicherweise dazu, Entscheidungen zu treffen, die sie nicht treffen würden, wenn sie die Folgen überblickten. Und die werden nicht ausbleiben. Irgendwann wird es wieder bergab gehen – hoffentlich ist es dann nicht schon zu spät.