Ob Brett M. Kavanaugh, Donald Trumps Kandidat für Amerikas oberstes Gericht, vor 36 Jahren bei einer Party am Rande der Hauptstadt Washington im betrunkenen Zustand versucht hat, eine Mitschülerin zu vergewaltigen, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit nie herausgefunden werden.
Zum einen ist das vermutete Verbrechen längst verjährt. Zum anderen liegt das behauptete Geschehen zu lange zurück und weisen die Erinnerungen des mutmaßlichen Opfers zu viele Lücken auf. Es wäre deshalb kaum möglich, einen über jeden Zweifel erhabenen Schuldspruch zu fällen.
Doch darum geht es auch nicht, selbst wenn sich in der vergangenen Woche einige Senatoren bei der Anhörung der Beteiligten wie Scharfrichter aufführten. Im Zentrum steht allein die Frage, ob der Jurist Kavanaugh für den Supreme Court geeignet ist. Oder ob die vor kurzem erhobenen Anschuldigungen und Kavanaughs Reaktionen darauf Anlass zu ernsten und nachhaltigen Zweifeln an seiner Befähigung für dieses oberste Richteramt geben.
Die Demokraten schenken dem mutmaßlichen Opfer Glauben. Viele Republikaner jedoch halten die Vorwürfe gegen ihren Kandidaten für ein hinterhältiges politisches Spiel, um den konservativen Juristen Kavanaugh zu verhindern.
Es geht um mehr als um Gewalt, Sex und Kabale
Nun soll das FBI innerhalb von nur einer Woche eine Antwort darauf geben, wer von beiden glaubwürdiger erscheint: Das mutmaßliche Opfer, die Psychologieprofessorin Christine Blasey Ford, die vor dem Justizausschuss des US-Senats unter Eid aussagte, sie sei sich hundertprozentig sicher, dass es Brett M. Kavanaugh war, der sie zu vergewaltigen versucht habe. Oder der mutmaßliche Täter Kavanaugh, der ebenfalls unter Eid beschwor, niemals in seinem Leben einer Frau etwas angetan zu haben.
Es geht hierbei um weit mehr als um eine amerikanische Schmierengeschichte vor den Augen der Weltöffentlichkeit, um weit mehr als um Gewalt, Sex und Kabale. Diese Affäre muss auch uns interessieren – und zwar aus politischen und ganz prinzipiellen Gründen.
Der Supreme Court der Vereinigten Staaten ist kein gewöhnliches nationales Gericht. Seine Entscheidungen setzen weitreichendes Recht, die Urteile, ihre Begründungen und selbst die vom Urteil abweichenden Meinungen der unterlegenen Richter haben seit jeher eine gewaltige Strahlkraft weit über die Grenzen der Vereinigten Staaten hinaus.
Wenn Amerikas neun oberste Richter über das Recht auf Abtreibung oder die gleichgeschlechtliche Ehe urteilen, über die Todesstrafe oder Fragen der Rassengleichheit, ist das auch jenseits der USA eine Nachricht und findet große Beachtung. Überall auf der Welt schauen Verfassungsgerichte voller Neugier auf Amerikas Supreme Court, diesen marmornen Tempel des Rechts, der ebenso selbstbewusst wie majestätisch in Washington gleich gegenüber dem Kapitol seinen Platz eingenommen hat.
Die Unabhängigkeit der dritten Gewalt steht auf dem Spiel
Wichtig ist der Streit um Richter Kavanaugh aber auch deshalb, weil in den Vereinigten Staaten schon seit einiger Zeit ein erbitterter Kampf um die Beherrschung und die Politisierung des Supreme Court tobt. Auf dem Spiel steht die Unabhängigkeit der dritten Gewalt, die Zukunft des Rechtsstaats und der freiheitlichen Demokratie schlechthin.
Dieser Kampf wird nicht nur auf der anderen Seite des Atlantiks, in der Neuen Welt ausgetragen. Er hat längst Europa erreicht, etwa Staaten wie Polen oder Ungarn. Auch Deutschland ist nicht vor einer politischen Vereinnahmung der Gerichte gefeit.
Jahrzehntelang haben hierzulande die Unionsparteien, SPD und FDP die Besetzung der oberen Gerichte untereinander ausgehandelt. Doch mit der wachsenden Spaltung der Gesellschaft und der Zersplitterung der Parteienlandschaft werden bei der Ernennung von Bundesrichtern irgendwann auch extreme Parteien wie die AfD ein Wörtchen mitreden wollen – und womöglich können.
Kavanaugh ist der falsche Mann
Der amerikanische Krieg um frei werdende Richterstühle ist ein Menetekel. Je zerstrittener die Gesellschaft, je ideologischer und unversöhnlicher die Parteien, desto erbarmungsloser wird taktiert, manipuliert und bis aufs Blut gegeneinander gekämpft.
Bis vor nicht allzu langer Zeit war es eine gute demokratische Gepflogenheit, dass die von einem US-Präsidenten vorgeschlagenen Richterkandidaten nicht nur die Unterstützung seiner eigenen Partei genossen, sondern auch Zustimmung in den Reihen der Opposition fanden. Doch das ist Geschichte. In einer Zeit, in der Ideologen und Fanatiker im Weißen Haus regieren, gibt es für Moderation und Kompromisse keinen Raum.
Die Republikaner haben den Supreme Court zum Kampffeld erklärt. Sie wollen ihn nach rechts rücken. Mit ihrer Mehrheit im Senat blockierten sie ein Jahr lang Barack Obamas Kandidaten für einen frei gewordenen Stuhl am obersten Gericht und hielten ihn so lange unbesetzt, bis Trump an der Macht war.
Schon im Wahlkampf hatte Donald Trump seinen republikanischen Wählern versprochen, im Falle seines Sieges nur stramm konservative Richter zu nominieren und mit aller Macht durchzuboxen. Und die Demokraten haben sich geschworen, dies nach Kräften zu verhindern. Der grausige Streit über die Ernennung von Brett Kavanaugh ist dafür ein Beispiel.
Ist die Person geeignet für das Amt im obersten Gericht?
In den Hintergrund gerät dabei, worum es im Kern bei einer Nominierung und der anschließenden Anhörung eines Richterkandidaten allein gehen soll: Ist er oder sie für das oberste Gericht fachlich und persönlich geeignet? Kann man ihm oder ihr zutrauen, das Amt unparteiisch, vorurteilsfrei, nach bestem Wissen und Gewissen, nach Recht und Gesetz und allein der Wahrheit verpflichtet auszuüben? Besitzt er oder sie, wie die Amerikaner sagen, ein ausgeglichenes judicial temperament?
Legt man diese Maßstäbe zugrunde, ist Brett Kavanaugh bereits jetzt ein zweifelhafter Kandidat. Und zwar aus mehrerlei Gründen: Christine Blasey Ford, das mögliche Missbrauchsopfer, hat ihre Anschuldigung in einem vertraulichen Brief an eine Kongressabgeordnete bereits zu einem Zeitpunkt erhoben, als Kavanaugh nur einer von mehreren möglichen Kandidaten für den Supreme Court war – und nicht erst, als Donald Trump ihn nominierte.
Um die Glaubwürdigkeit ihres Vorwurfs der versuchten Vergewaltigung zu unterstreichen, hat sich Ford freiwillig und erfolgreich einem Lügendetektortest unterworfen – Kavanaugh aber nicht.
Ford – wie auch die Demokraten im Senat – baten von Anfang an darum, das FBI den Missbrauchsvorwurf untersuchen zu lassen. Die Republikaner und auch Kavanaugh lehnten das, so lange sie konnten, ab.
Ford und die Demokraten ersuchten den Senat, einen Zeugen zu laden, der laut der Psychologieprofessorin bei dem von ihr behaupteten Vergewaltigungsversuch dabei gewesen sein soll. Die republikanische Mehrheit im Senat sagte Nein – und auch Kavanaugh hatte kein Interesse. Der Zeuge ließ lediglich verlauten, er könne sich an einen solchen Vorfall nicht erinnern. Im Übrigen sei er derzeit wegen Depressionen und der Behandlung von Alkoholismus nicht vernehmungsfähig.
Vor allem aber: Bei seiner Anhörung schaltete der Jurist Kavanaugh auf Angriff und verlor jede Contenance. Wütend, mit hochrotem Kopf und ganz im Sinne von Donald Trump bezichtigte er die Demokraten der Niedertracht und einer gemeinen Intrige. Indem sie ihn, Kavanaugh, an den Pranger stellten, wollten sie Rache für die Clintons und für die verlorene Präsidentschaftswahl nehmen.
Spätestens in diesem Augenblick wurde klar: Brett M. Kavanaugh ist ungeeignet für den Supreme Court. Denn wer bei einem Jobinterview für die dritte Gewalt derart aus der Fassung gerät und unbeherrscht auf die Demokraten im Senat einschlägt, nährt Zweifel an einer unparteiischen und unvoreingenommenen Ausübung des höchsten Richteramts.