10 nach 8: Sally McGrane über die USA

 
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03.09.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Der Sprung von Fakt zu Fiktion
 
Beim Recherchieren und Schreiben hatte ich immer wieder unerwartete Begegnungen. Sie helfen mir jetzt, wo reale Machenschaften krimineller sind als in Spionageromanen.
VON SALLY MCGRANE

"Spring, und das Netz wird da sein", heißt es bei Julia Cameron. © Etienne Boulanger/unsplash.com
 
"Spring, und das Netz wird da sein", heißt es bei Julia Cameron. © Etienne Boulanger/unsplash.com
 
 
Vor einem Jahrzehnt, auf einer Heimreise nach Kalifornien, beschloss ich, von San Francisco nach San José zu laufen. Die Idee war entstanden, als meine Mutter und ich auf der Autobahn in einem Stau stecken geblieben waren. "Schau mal", sagte meine Mutter und zeigte auf eine große Missionsglocke, die an einem krummstabartig gebogenen Haken hing. "Wir müssen wohl auf dem Camino sein."

Anfangs, als die spanischen Missionare ankamen, bauten sie an der Küste meines Heimatstaats Missionen. Jede war einen Tagesritt oder drei Tagesmärsche von der nächsten entfernt. El Camino Real war der Weg, der die Missionen miteinander verband. Irgendwann im Lauf des 20. Jahrhunderts begannen Frauengruppen damit, Glocken aufzuhängen, um ihn zu markieren. In meiner Familie waren diese Glocken wohlbekannt, denn mein Großonkel hatte eine geklaut. Er stellte Außenleuchten her – große Laternen und kleine Lichterketten für Wüstengärten und Veranden –, und man muss fairerweise sagen, dass er zunächst beim Staat Kalifornien nachgefragt hatte, ob er ein Modell haben könne, um es zu kopieren.

Als die Behörden Nein sagten, nahm er die Dinge im Schutz der Dunkelheit selbst in die Hand. Eine dieser riesigen nachgemachten Glocken beleuchtete später die Auffahrt meines Großvaters.

"Es muss damals, als die Missionare ankamen, sehr anders ausgesehen haben", ergänzte meine Mutter, als wir im Stau standen und auf die öde, tot aussehende Schallschutzwand starrten, über die sich zarte Bougainvillea-Zweige rankten. "Ich frage mich", sagte ich, "wie es wohl wäre, den Camino jetzt zu laufen."

Einige Tage später beschlossen meine Mutter und ich, es auszuprobieren. Wir fingen an zu planen und konnten nur einen einzigen Menschen ausfindig machen, der behauptete, den Camino schon gegangen zu sein. Sein Name war John Black, und die Geschichten, die er aufgeschrieben hatte – wie er die Nacht bei einem heftigen Wolkenbruch inmitten eines kalifornischen Felds verbrachte, der Wind an seinen Kleidern zerrte und er den Himmel anrief –, klangen wie aus dem Leben früher christlicher Heiliger. Seiner Aussage nach hatte er den Bundesstaat im Laufe eines Jahres von oben nach ganz unten durchwandert. Ich war geneigt, anzunehmen, dass er gar nicht existierte: Schon sein Name klang erfunden. Meine Mutter schickte ihm jedoch eine E-Mail und er schrieb zurück. John Black war den Weg im Zuge seiner Konvertierung zum Katholizismus gelaufen und informierte meine Mutter fröhlich, dass er mit leeren Taschen losmarschiert war und darauf vertraut hatte, dass Gott ihn versorgen würde. Er war freundlich und aufmunternd und schrieb uns, wann immer er unterwegs etwas gebraucht habe – Essen, eine Unterkunft, medizinische Hilfe –, habe er es erhalten.

"Er scheint echt nett zu sein", meinte meine Mutter. "Aber ich glaube, wir nehmen doch lieber unsere Kreditkarten mit." Das Ziel, das wir uns vornahmen, war kleiner – wir würden bei der Mission unserer Heimatstadt San Francisco loslaufen und drei Tage bis zur nächsten wandern. Von dort aus wollten wir mit dem Silicon-Valley-Nahverkehrszug nach Hause fahren.

Also packten wir unsere Rucksäcke, steckten unsere Geldbeutel ein und gingen los. Doch nach einem Tag Fußmarsch – der uns bis zum Best Western am Flughafen von San Francisco brachte – taten meiner Mutter die Wanderschuhe weh. Wir waren ausschließlich auf Betonwegen gelaufen und ihre Füße waren von Blasen übersät. Meine Mutter hat vier Kinder und beklagt sich nie über irgendetwas. Als sie meinte, sie bräuchte neue Schuhe, anderenfalls wäre sie nicht in der Lage, noch einen weiteren Tag zu laufen, wusste ich deshalb, dass sie es ernst meinte. Der Empfangsmitarbeiter im Hotel half uns nicht weiter. Wir humpelten über die Straße, um einen Kaffee zu trinken. "Kein Schuhladen hier", sagten die Einheimischen und schüttelten den Kopf. Wir tranken unsere Cappuccinos, aßen unsere Bagels und schlenderten ziellos eine ruhige Wohnstraße entlang. Dann blickte ich auf: An einer kleinen Ladenfassade stand "Happy Feet". Dort wurden allerdings keine Schuhe verkauft, sondern irgend so ein deutsches System maßgefertigter Fußstützen; doch nachdem der philippinische Inhaber anhand unserer Fußabdrücke eindeutig festgestellt hatte, dass meine Mutter und ich miteinander verwandt sind, klopfte er ihr auf die Schulter und klebte ein paar Plastikeinlagen in ihre Wanderschuhe. Draußen machte sie ein paar Schritte und lächelte. "Das fühlt sich großartig an!", sagte sie. Mit federnden Schritten liefen wir weiter.

Schließlich schüttelte meine Mutter den Kopf. "Weißt du, an wen mich das erinnert?"

Ich nickte: Ich hatte genau dasselbe gedacht. "An John Black."

Und das Netz wird da sein!

Als ich einige Jahre später zu einer weiteren langen Wanderung, dem Schreiben eines Romans, aufbrach, beschloss ich, den August in der Ukraine zu verbringen. Odessa ist eine Stadt, die Literatur atmet, es ist heiß im Sommer – ich kann nicht schreiben, wenn mir kalt ist – und nicht allzu teuer. Außerdem schrieb ich an einem Spionageroman ( Moskau um Mitternacht), der in Russland spielt. Katharina die Große hatte Odessa einst als dritte Hauptstadt des Russischen Reichs gebaut, weswegen es dort, auch wenn es mittlerweile zur Ukraine gehört, immer noch sehr viel russisches Flair gibt – und den Strand natürlich. Ich fand ein Büro direkt gegenüber von dem Haus, wo Gogol gelebt hatte (dort hatte er eine zweite Hälfte der Toten Seelen geschrieben, die er, zurück in Moskau, Seite um Seite verbrannt hatte).

Ich schrieb jeden Tag und brachte Max, meinen Spion, von Moskau nach Sibirien, wo er einige kriminelle Machenschaften mit Nuklearabfall aufdecken sollte. Dann blieb ich stecken: Hatte ich überhaupt richtig verstanden, wie die Lagerung atomaren Mülls funktionierte? Genau zu diesem Zeitpunkt wurde ich auf eine Gartenparty in einem früheren Tolstoi-Palast eingeladen, gerade die Straße hoch. Ich hatte mich selbst mehr oder weniger komplett abgeschottet, um zu schreiben, doch ich entschied mich dafür, eine Ausnahme zu machen und trotzdem hinzugehen. Auf der bröckelnden, großzügig geschwungenen Terrasse mit Blick auf den Garten traf ich einen charmanten französischen Fotografen fortgeschrittenen Alters. Er trug sein Hemd offen mit einem tiefen V-Ausschnitt und hatte in den Achtzigerjahren für Paris Match die ganze Welt bereist; er hatte eine Reihe von Ex-Frauen und fast ebenso viele Kinder. Er fragte mich, was ich in Odessa tat, und ich teilte es ihm mit. Dann – vermutlich das Resultat wochenlangen Verzichts auf menschliche Kontakte – fing ich sofort damit an, meine Sorgen detailliert zu schildern. "Wenn nun ein nuklearer Brennstab durch ein Kraftwerk führt, bleiben als Abfallprodukt die Hüllen der Brennstäbe, die sogenannten Tail-Ends, übrig", sagte ich. "Stimmt", sagte er. "Sehen Sie, ich kann Ihnen helfen. Bevor ich Fotograf wurde, war ich Atomphysiker. Ich habe für Areva gearbeitet, den größten französischen Nuklearkonzern."

Diese Art glücklicher Zufälle ereignete sich regelmäßig, wenn ich schrieb. Ein Expertenfreund schlug mir vor, mich mit einer russischen Umweltaktivistin zu unterhalten, die zum Thema Atommüll arbeitete. Sie war unheimlich interessant und auskunftsfreudig – und sah exakt so aus, wie ich mir die Heldin meines Buchs vorgestellt hatte. (Nachdem ich mit ihr gesprochen hatte, baute ich ihre Geschichten ein und gab meiner Heldin eine Zwillingsschwester, was ein großes Problem der Handlung löste.) Jedes Mal dachte ich an John Black.

Später, um mir bei der Beendigung von Odessa im Morgengrauen, dem Folgeband von Moskau um Mitternacht, zu helfen (der in meiner Lieblingshafenstadt am Schwarzen Meer spielt), las ich Der Weg des Künstlers von Julia Cameron, mit fast religiösem Eifer. Darin schreibt sie ebenfalls über dieses Phänomen. "Spring, und das Netz wird da sein", heißt es bei ihr. Ich bin mir sicher, dass ich es nicht geglaubt hätte, hätte ich es nicht erlebt.

Fakt und Fiktion verschwimmen

Zum ersten Mal hörte ich kurz nach Donald Trumps Wahl 2016 von dem Steele-Dossier. Ich traf mich mit ein paar tollen Freunden – russischen Investigativjournalisten –, die zu einer Konferenz in Berlin waren. Andrej und Irina hatten mir bei meinen ersten zwei Spionageromanen sehr geholfen – sie hatten großartige Ideen, große und kleine, und gaben kompetentes Feedback.

Doch diesmal sprachen wir nicht über Fiktion. Bei großem Braunen und Himbeertorte im Einstein verglichen wir Notizen zu den amerikanischen Präsidentschaftswahlergebnissen – die uns, wie so viele unserer Kollegen, überrascht hatten. "Hattest du vorher schon mal von Breitbart News gehört?", fragte Irina. "Nein", sagte ich. "Du?" Sie schüttelte den Kopf, nein. Tatsächlich hatte ich mich gerade erst mit einem anderen amerikanischen Journalisten in Berlin unterhalten, der begonnen hatte, über die Website zu recherchieren, um zu versuchen, wenn auch erst im Nachhinein, die Geschehnisse daheim zu begreifen.

Dann fragte mich Andrej, ob ich schon von dem sogenannten Steele-Tape gehört hätte. Das unbestätigte Gerücht über Donald Trumps angebliches Verhalten in der Präsidentensuite im Moskauer Ritz zirkulierte vor den Wahlen unter westlichen Journalisten. Das klinge komplett erfunden, sagte ich. Sie zuckten mit den Schultern. Es gebe einige offensichtliche Fehler in dem Bericht, meinten sie, doch die Art und Weise, wie der Entscheidungsprozess im Kreml darin beschrieben wurde, klinge glaubhaft. Wir verstummten alle einen Moment lang angesichts dieser merkwürdigen neuen Welt, in der die Grenze zwischen Fakt und Fiktion so zu verschwimmen schien.

Jetzt, fast zwei Jahre später, fällt es schwer, sich keine Sorgen darüber zu machen, was in den USA passiert. Jedes Gespräch mit meiner Mutter in Kalifornien fängt an mit "Weißt du, was sie heute gemacht haben?!". Und endet, genau wie die Gespräche mit Freunden in Russland vor wenigen Jahren, mit "Es ist so deprimierend, dass ich nicht mal darüber sprechen möchte".

Die Neuigkeiten von zu Hause sind fast tagtäglich beängstigend; als Mensch finde ich das zutiefst aufwühlend. Doch da ich zugleich anfange, darüber nachzudenken, den letzten Teil meiner Spionagetrilogie zu schreiben, denke ich manchmal, ich sollte versuchen, die Dinge in einem positiveren Licht zu sehen. Vielleicht sollte ich öfter zu den Lehren von John Black und Julia Cameron zurückkehren. Dann kann ich vielleicht damit anfangen, die völlig unglaubhaften Handlungsstränge, die die Titelseite der New York Times bevölkern, mit weniger Empörung und Verzweiflung zu lesen. Stattdessen kann ich versuchen, sie einfach als ein sehr großzügiges Geschenk an die Autorin von Spionageromanen zu betrachten.

Aus dem Englischen von Barbara Wiebking

Sally McGrane kommt aus Berkeley in Kalifornien und lebt seit mehr als zehn Jahren in Berlin. Sie ist Journalistin und schreibt unter anderem für die "New York Times" und den "New Yorker". Ihr Spionageroman "Moskau um Mitternacht“ ist im März 2016 erschienen. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
 

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