Zum Ende des Sommers ist auch der dritte und letzte Band von Vernon Subutex in Deutschland erschienen, der als Literatursensation gefeierten Trilogie von Virginie Despentes . Die französische Schriftstellerin zeigt auf, wie Menschen in neoliberalen Verhältnissen vereinsamen und verrohen, sie zeigt aber auch, wie neue Formen des Miteinanders möglich werden.
In rauem Tonfall, mit poetisch hervorblitzenden Sätzen, erzählt Despentes die Geschichte ihres Titelhelden. Vernon, ehemaliger Plattenhändler, ähnelt in seinem lethargischen Tran einem früheren Protagonisten der Autorin, dem in die Midlife-Crisis gekommenen Punkrocker aus Teen Spirit. Vernon lebt eingekapselt und verarmt, immer seltener geht er auf ein Date, um mal mit der einen, mal mit der anderen zu vögeln, immer seltener trinkt er Bier mit alten Freunden. Die Kumpel aus Punkrockzeiten haben sich in ihre bürgerlichen und zumeist gescheiterten Existenzen zurückgezogen. Statt Abenteuer miteinander zu erleben, kommuniziert und kommentiert man in den sozialen Medien.
Eines Tages kann Vernon die Miete nicht bezahlen, fliegt aus seiner Bude und ist gezwungen, sich zu bewegen, Bekannte der Vergangenheit aufzusuchen und Unbekannten der Gegenwart zu begegnen. Hier beginnt die nomadische Reise eines Kollektivs, das sich findet, auseinanderstäubt und sich in alle Winde verstreut, um wieder zueinanderzufinden. Der bestechende, verpeilte bis geniale Charakter Vernon trägt durch die Trilogie, in deren Verlauf er sich zu einer Art Guru wandelt, einem seltsamen Mischwesen aus Kurt Cobain und Jesus. Wenn Vernon auflegt, beginnt das Ritual, in dem alle aus ihren gescheiterten Existenzen heraus auf die Tanzfläche treten. God is a DJ.
Indessen lässt Despentes die Erzählperspektiven wie Splitter in einem Kaleidoskop umherwirbeln. Da ist Pamela Kant, die nach der Karriere als Pornostar spürt, wie stark ihr das Stigma die Rückkehr in bürgerliche Lebenswelten versperrt. Da ist Xavier, beruflich gescheitert, reich verheiratet, der über die Jahre zum Prototyp des reaktionären Wutbürgers mutiert ist. Da ist Aïcha, 15 Jahre alt, die sieht, wie ihr säkularer Vater trotz seiner aufrichtigen Liebe zur französischen Kultur ständig auf seinen arabischen Namen reduziert wird, weshalb sie sich hilflos und trotzig dem Islam zuwendet. Da ist Marcia, eine Transfrau aus Brasilien, die amüsiert die Absurditäten der französischen Gesellschaft beobachtet und der Vernon vollends verfällt. Da ist Patrice, ein kommunistischer Rocker mit einem Gewaltproblem. Der Blick der Autorin auf ihre Protagonisten ist schonungslos, sie lässt sie von ihrem persönlichen Scheitern berichten.
Ihre Figuren berichten nicht nur, sie reden sich in Rage und ereifern sich darüber, was das Leben mit ihnen gemacht hat. Sie klagen die Lebensverhältnisse im wirtschaftsliberalen Frankreich an. Doch da das Kapital schwer anklagbar ist, beklagen sie sich über all die anderen, die ihnen das Leben schwer machen. Und so leben sie vereinzelt in ihren fest zurechtgelegten Weltsichten, verharren in den Facebook-Inszenierungen ihrer Identität, wälzen sich in Ressentiments und Selbstmitleid. Ähnlich wie ihr Schriftstellerkollege Michel Houellebecq bedient Despentes das Narrativ, dass das Leben beständig bergab geht. Beschrieben wird das Leiden aller, so verschieden ihre Leiden auch sind. Aus diesen kaleidoskopischen Splittern setzt sich das Gesamtpanorama einer gespaltenen Gesellschaft zusammen.
Der Roman erzählt, wie die ökonomische Krise Ängste schürt und Ressentiments hervorbringt. Beispielhaft für diese Tendenz und Beobachtung steht die Figur des erfolglosen Drehbuchautors Xavier. Sein antimuslimisches Ressentiment zeigt sich als unverhüllter Neid auf patriarchale Verhältnisse. Nachdem ihm seine Ehefrau, von der er finanziell abhängig ist, eine Einkaufliste in die Hand gedrückt hat, steht er verärgert im Supermarkt und fühlt sich nahezu kastriert, vom Feminismus bedroht. Dann erblickt er eine verschleierte Muslima und gerät vollends in Rage – nicht, weil er sich über ihre vermeintliche Unterdrückung aufregt, nein, er sehnt sich danach, seine eigene Frau unterdrücken zu können: "Die machen doch alles im Haus, ohne zu jammern und gehen arbeiten, um ihre Kerle durchzufüttern, sie müssen sich auch noch einen Schleier umhängen, um ihre Unterwerfung zu demonstrieren. Das ist doch Psychoterror! Alles nur, damit der französische Mann merkt, dass er nichts mehr wert ist."
Diese literarische Binnenperspektive entspricht einer Beobachtung des Psychoanalytikers Sama Maani: "Moslems werden dafür beneidet, dass sie die besseren AntisemitInnen sein könnten, dass patriarchale Strukturen, Homophobie und kulturelle Homogenität im Islam und in islamischen Kollektiven besser gelebt werden könnten. Das ist natürlich Projektion und Wunschvorstellung, diese Gemeinschaften sind immer imaginär."
Durch solch eine Erzählperspektive gibt die Romanreihe Einblicke in die affektiven Dynamiken des Ressentiments. In dieser Hinsicht wird Despentes oft mit Houellebecq verglichen und in der Tat ähneln sich die Bilder der Vereinsamung und Verrohung, die die beiden Autoren zeichnen , bisweilen. Allerdings führen Houellebecqs Protagonisten ihre Misere auf allzu liberale Lebens- und Liebesweisen nach '68 zurück, für sie ist die Hauptschuld ihres Leidens weniger im Kapitalismus als im Feminismus begründet.
Keine friedfertige Hippie-Utopie
Despentes’ Romane zeigen hingegen auf, dass die sexuelle Revolution von 1968 weitergedacht werden muss, denn in ihrer Romantrilogie leiden die Menschen nicht nur unter der Prekarisierung, sie leiden auch unter den Anforderungen der Geschlechterordnung. "Die Kultur der Armen, Kiko könnte kotzen! Wenn er so leben müsste – versalzener Fraß, Metro, für unter fünftausend schuften und Klamotten im Kaufhaus kaufen. Am Airport auf harten Stühlen warten, nichts zu trinken, keine Zeitung kriegen, wie der letzte Dreck behandelt werden und Economy fliegen. Altes cellulitisches Fleisch ficken, Freitag um eins nach Hause rennen, da warten Haushalt und Einkauf. Auf die Preise achten und ausrechnen, was man sich leisten kann. Kiko würde das nicht mitmachen, er würde Banken überfallen, würde sich die Kugel geben, er würde eine Lösung finden. Wenn sie so leben, verdienen sie es nicht besser. (...) Männer wie ihn macht keiner zu Sklaven. Er bleibt aufrecht, egal, was passiert – lieber krepieren, als auf Knien leben."
Die Pose des kokainabhängigen Spekulanten Kiko, der sich im Tanzrausch von Vernons' DJ-Set als Krieger des Kapitals in die Brust wirft, offenbart, dass der Konkurrenzkampf des Wirtschaftsliberalismus immer noch die Idee hypermaskuliner Souveränität benötigt. Oder Patrice. Der Rocker mit Klassenkampfattitüde kompensiert den Druck, hart arbeiten zu müssen, um am Ende dennoch die Klassenfahrt seiner Söhne nicht bezahlen zu können, mit Faustschlägen gegen seine Ehefrau. Erzählt wird nicht nur die ökonomische Krise, erzählt wird die Krise der Männlichkeit. Alle leiden unter der Geschlechterordnung – Frauen, Queers und Transpersonen und Typen wie Kiko oder Patrice, obwohl sie alle sehr verschieden leiden. Kiko und Patrice kämpfen damit, Maskulinität zu verkörpern und aufzuführen , um sich im sozialdarwinistischen Gerangel zu behaupten. Dabei sind sie eingekeilt in ihr chauvinistisches Gebaren, wohl wissend, dass die Tage, in denen diese Performance allgemein anerkannt war, gezählt sind.
Indem Despentes feinstofflich schildert, wie sich Menschen in ihren Ansichten und Selbstbildern verbarrikadieren, um in Zeiten ökonomischer Unsicherheit die Illusion von Stabilität aufrechtzuerhalten, zeigt sie – ähnlich wie der Soziologe Didier Eribon in seinem autobiografischen Essay Rückkehr nach Reims –, dass das Wiedererstarken der Rechten aus dem Wirtschaftsliberalismus resultiert, der uns scheinbar individuellen Freiraum gibt, letztlich aber autoritäre Züge trägt. Die Protagonisten, die sich aus der Prekarisierung heraus dem Kollektiv anschließen, finden sich in seltsam anmutenden Allianzen wieder, es bilden sich freundschaftliche Bande zwischen Menschen, die in ihren Weltanschauungen und Selbstverständnissen so verschieden sind, dass sie kaum in Kontakt kommen, keine Werte, keine Sprache teilen. Doch sie reden miteinander, sie tanzen miteinander, sie streiten miteinander.
Despentes malt keine friedfertige Hippie-Utopie, das Kollektiv rund um Vernon Subutex ist überaus konfliktreich, doch diese Reibereien braucht es eben, um sich mit anderen auseinanderzusetzen und aus dem eigenen Selbstverständnis herauszutreten. In den Rissen der gespaltenen Gesellschaft bilden sich subkulturelle Nischen, in denen sich neue Formen der Lebens- und Liebesweisen entfalten. Indem sie dergestalt Beziehungen der Sorge und Solidarität schildert, schreibt sich Despentes in die Denklinie des Mai '68 ein und zeigt auf, wie wesentlich es ist, inmitten der neoliberalen Vereinzelung Banden zu bilden.
Virginie Despentes: "Das Leben des Vernon Subutex 3"; Aus dem Französischen von Claudia Steinitz; Kiepenheuer & Witsch 2018; 416 Seiten; 22,- €
Jule Govrin ist Philosophin und forscht an der Schnittstelle von Politischer Theorie, Sozialphilosophie und Ästhetik. Neben ihrer akademischen Arbeit ist sie journalistisch tätig, u.a. als Gastautorin von "10 nach 8".
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