Kiyaks Deutschstunde: Wir sind da, wir sind hier

 
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Kiyaks Deutschstunde
02.08.2018
 
 
 
 
Was meinen Politiker, wenn sie sagen, was sie sagen? Und: Was meinen sie wirklich? Mely Kiyak sagt’s Ihnen!


Wir sind da, wir sind hier
 
Der Schriftsteller Roberto Saviano hat Intellektuelle und Künstler in Italien aufgefordert, für Demokratie und Bürgerrechte aufzustehen. Sein Appell gilt für ganz Europa.
VON MELY KIYAK


Lieber Roberto Saviano,
 
wir kennen uns nicht persönlich, aber Ihr Appell an Ihre Kollegen, in dem Sie verzweifelt "Warum versteckt ihr euch alle?" fragen, hat mich beunruhigt und traurig gemacht. Teile Ihrer Facebook-Ansprache wurden in zwei deutschsprachigen Zeitungen am Wochenende abgedruckt, im Schweizer Tagesanzeiger und in der Süddeutschen Zeitung.
 
Sie sind ein mutiger Kritiker des italienischen Innenministers Matteo Salvini der Partei Lega, den Sie als "Minister der Unterwelt" beschreiben, und der Sie dafür persönlich vor Gericht sehen will. Zu allem Überfluss droht er Ihnen, den Polizeischutz zu entziehen, unter dem Sie seit mehr als zehn Jahren stehen. Ein Innenminister, der einen Journalisten für vogelfrei erklärt – das kennen wir bislang eigentlich nur aus Russland und der Türkei und nicht aus einem EU-Staat. 
 
Wegen Ihrer Recherchen über die Mafia haben Sie es zudem mit skrupellosen Gegnern aus der organisierten Kriminalität zu tun. In Italien wird außerdem seit Wochen eine Kampagne gegen Sie betrieben, und sie scheint kein Ende zu finden, obwohl sie schon längst als Propaganda enttarnt ist. Angeblich hätten Sie gesagt, dass Sie lieber Flüchtlingen als italienischen Erdbebenopfern helfen würden. Die Quelle dieser Falschbehauptung ist schon längst bekannt. Trotzdem schlägt Ihnen die Verachtung Ihrer Landsleute entgegen. Ich glaube, als Autor, der noch keine 40 Jahre alt ist, kann man in keiner schwierigeren Situation sein. 
 
Widerstand der Zeitungen
 
Insofern verstehe ich Ihren Appell, den Sie – wenn ich es richtig verstehe – in erster Linie an die Kollegen in Italien richten, aber der uns Autoren derzeit fast überall in Europa, Russland, der Türkei und den USA betrifft.
 
Sie sagen:
 
"Jetzt werdet ihr mir sagen: Wir schlagen unsere Schlachten doch mit unseren Büchern, unseren Liedern, unseren Shows. Aber es gibt Momente, in denen es nicht mehr genügt, den Widerstand an die eigene Kunst zu delegieren. Sprecht mit euren Lesern, euren Zuhörern, mit all denen, deren Seele ihr mit eurer Arbeit berührt habt."
 
Sie begreifen sich als jemand, der für die 600.000 Flüchtlinge in Italien spricht, die keine Stimme haben. Und als Stimme der NGOs, als Kämpfer für jene, die sich einen Kampf nicht leisten können. Sie rufen:
 
 "Ich bitte euch aufzustehen für die Rechte aller!"
 
Das letzte Mal, dass ich diesen Platz hier genutzt habe, um in Ich-Form zu schreiben, war, als mein Kollege Deniz Yücel in Istanbul im Gefängnis saß, weil er, genau wie Sie, von den mächtigsten Männern eines Staates zum Feind erklärt wurde. Wir Kollegen, Autoren, Kulturschaffende, die sich für ihn einsetzten, taten das oft auch in Opposition zu den Lesern, von denen Sie finden, dass wir uns ihnen zuwenden sollten.  
 
Wenn ich etwas über diese Zeiten gelernt habe, dann ist es das Gegenteil. Wir müssen an unsere Leser appellieren:
 
"Wenn euch unsere Arbeit etwas bedeutet, wenn wir eure Seelen und Herzen berühren, dann wendet euch uns öffentlich zu. Steht zu uns."
 
Es sind immer erst die Schriftsteller, Autoren, Regisseure, Karikaturisten, kurz, es ist die Kultur, die als Erstes eingesperrt wird und um ihr Leben fürchten muss, wenn Regierungen ins Totalitäre kippen.
 
Daphne Caruana Galizia aus Malta, Ján Kuciak aus der Slowakei, Anna Politkowskaja aus Russland, Hrant Dink aus der Türkei, das sind nur einige der Namen von Kollegen, die getötet wurden, weil sie an den Wert von Wahrheit glaubten. Mir fallen auf Anhieb mehrere Dutzend Namen von ausländischen Kollegen ein, die gegen den Widerstand von Verlagen, Zeitungen und vor allem Lesern einen Großteil ihrer Energie dafür verwenden müssen, in Opposition zum eigenen Berufsstand zu kämpfen. Oder noch schlimmer: die von ihren eigenen Kollegen im Stich gelassen werden.
 
Das Schweigen der Leser
 
Arno Widmann, den Sie auch kennen, ist mein Förderer, Freund und Mentor. Sie sind ihm das erste Mal vor mehr als zehn Jahren begegnet. Er war einer der Ersten, der in Deutschland Ihre Bücher besprochen hat. Das ist seine Art zu sagen: Ich unterstütze Ihre Arbeit. Das Gespräch zwischen Ihnen beiden im Jahr 2014 ist mir sehr in Erinnerung geblieben. Sie sagten zu ihm: "Ich kann bald nicht mehr."
 
Wussten Sie, dass Arno Widmann in seiner Zeitung, der Frankfurter Rundschau, einen Kommentar über die polnische Gedenkpolitik schrieb, nach der die Judenvernichtung als rein deutsche Tat dargestellt werden soll? Dafür wird seine Zeitung sich in Warschau wohl juristisch verantworten müssen. Ich sprach neulich mit ihm darüber. Er, der Hunderten von Kollegen aus aller Welt beistand, muss sich allein mit dieser Sache rumplagen. 
 
Als es damals um Deniz ging, wissen Sie, wer hier in Deutschland als Erstes den Stab über ihn brach? Es waren auch Kollegen in Zeitungen und Politiker. Uns Autoren fehlen die Allianzen. Wir schaffen es nicht, gemeinsam für Menschenrechte, Freiheit und Demokratie einzustehen, und das ist belastend. Wenn wir als Autoren unsere Themen immer erst durch eine Wand aus politischer Opposition kämpfen müssen, während sich antidemokratische Kräfte in Politik und Medien zusammentun, geht uns irgendwann die Luft aus. Was wir brauchen, ist die Unterstützung unserer Leute, der Autoren im In- und Ausland, aber auch der Zeitungen. Vor allem der Zeitungen. 
 
Gestern schrieb mir der Schweizer Schriftsteller Jonas Lüscher, der Ihren Beitrag ebenfalls gelesen hatte, dass er sich demnächst mit seinem Freund, dem Salzburger Philosophen Michael Zichy, mit einer politischen Aktion an die europäische Öffentlichkeit wenden wird, weil er genau wie Sie findet, dass "Schreiben alleine nicht mehr reicht". Sie nennen es "den Widerstand nicht an die Kunst delegieren". Genauso macht es das Zentrum für Politische Schönheit, das mit seinen Aktionen an der Schnittstelle von investigativer Recherche, Dokumentation, politischem Widerstand und Kunst agiert. Der Kopf der Gruppe, Philipp Ruch, ist von Haus aus übrigens Philosoph. Es gibt also viele, die den Dialog mit der Öffentlichkeit suchen, mit unterschiedlichen Mitteln. Aber es scheint – für den Moment zumindest – alles nichts zu helfen.
 
Auch in Deutschland existieren Feindeslisten, die von Rechtsextremisten betrieben werden. Ich selbst stand jahrelang auf einer Liste, die öffentlich meine Erhängung ankündigte, sobald hier "ein anderer Wind weht". Ich will damit sagen, dass die Front, gegen die wir kämpfen, sich nicht durch Plaudereien mit dem Leser wegdiskutieren lässt. Wir brauchen einen Staat, der unsere Arbeit schützt. Wir brauchen Leser, die sich vor uns stellen. 
 
Literatur ist die mächtigste Waffe
 
Als ich zweimal in Folge mit meinen Autorenfreunden Antje Rávic Strubel, Nicol Ljubić und Tilman Spengler die Europäische Schriftstellerkonferenz 2014 und 2016 organisierte, fragte das deutsche Feuilleton in jedem Interview, was Autoren denn politisch bewirken könnten. Ich bin fest davon überzeugt, dass die Literatur die mächtigste Waffe im Kampf gegen die Diktatur ist. Mein Beweis dafür sind die Bücherverbrennungen der Nazis. Als sie die Macht übernahmen, war ihre erste Amtshandlung, bedrucktes Papier zu verbrennen. Mehr Macht kann man der Literatur öffentlich nicht beimessen (und mehr Angst vor ihr übrigens auch nicht). Die Nachfrage nach dem, was wir europäischen Autoren über unsere Regierungen und Politik der Gegenwart zu erzählen haben, war jedenfalls gering. Ágnes Heller, György Dalos, Mikhail Shishkin, und, und, und – sie waren alle da. Neulich wurde wieder der Ruf nach den Autoren und Intellektuellen laut. Ich antworte an dieser Stelle: Wir waren da. Wo wart ihr?
 
Ich glaube an das, was wir tun. Ich glaube, dass es wichtig ist, was wir an Büchern und Stücken, an Ideen hinterlassen. Wenn der Leser das auch findet, dann muss er für die Freiheit der Kunst, der Literatur, der Kultur und der Presse aufstehen. Das Schweigen der Leser, die uns im Stillen zustimmen, macht uns für den lauten Hass und die Bedrohung unserer Gegner angreifbar.
 
Warum ich einige Namen in diesem Text habe fallen lassen? Weil ich Ihnen damit sagen möchte: Wir sind da. Wir sind hier. Wir haben Namen und Gesichter. Wir sind vielleicht nicht viele, aber wir erkennen in Ihrer Not eine Bedrohung für uns alle.
 
Als Autoren können wir nichts bewirken, außer zu schreiben. Für Sie ist das zu wenig. Aus Ihrer Perspektive völlig nachvollziehbar. Was Sie jetzt dringend brauchen, sind Polizeischutz und Rechtsschutz.
 
Ich hoffe, ich lerne Sie eines Tages persönlich kennen, gesund und unversehrt.
 
Ciao, selam
 
Mely


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