10 nach 8: Christina Mohr über Popmusik

 
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31.08.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Fan für immer
 
Ich kenne Frauen, die haben 1986 ihre letzte Platte gekauft. Wie kann es sein, dass sich viele ab einem gewissen Alter nicht mehr für Popmusik interessieren?
VON CHRISTINA MOHR

Blondie forever – ein Mauergemälde des Künstlers Shepard Fairey in New York © ANGELA WEISS/AFP/Getty Images
 
Blondie forever – ein Mauergemälde des Künstlers Shepard Fairey in New York © ANGELA WEISS/AFP/Getty Images
 

"Das gefällt dir doch gar nicht – du hörst das nur, weil du auf M. stehst!" Ich war empört: Dass Mitschülerin B. mir unterstellte, ich würde die Dead Kennedys-Platte mit mir herumtragen, um die Aufmerksamkeit des besagten M. zu erschleichen, empfand ich als zutiefst ungerecht, denn es stimmte schlicht und einfach nicht. Nie wäre mir in den Sinn gekommen, aus strategischen Gründen Platten zu kaufen. Platten kaufte ich, weil ich die Musik toll fand. Und wenn ich genügend Taschengeld übrig hatte, logisch. Später erkannte ich wohl, dass sich über musikalische Vorlieben (oder Abneigungen) durchaus interessante Bekanntschaften machen ließen – aber das ist eine andere Geschichte.

Wir waren sehr jung, als sich eingangs erwähnte Begebenheit zutrug, vielleicht 13 oder 14 Jahre alt. Gut die Hälfte dieser Lebensspanne war ich als Kind der Siebzigerjahre schon glühender Popfan: zuerst von Smokie, danach von den Teens und seit 1979 bis zum heutigen Tag Blondie-Aficionada. Dass es mit dieser Popmusik respektive "Raptschaki", wie meine polnischstämmige Oma zu sagen pflegte, etwas Besonderes auf sich haben musste, dämmerte mir eines Fernsehabends, wahrscheinlich lief der Musikladen oder Ilja Richters Disco. Als Smokie auftraten und Lay Back In The Arms Of Someone spielten, weinte meine Mutter neben mir bittere Tränen. An diesem Abend wusste ich es noch nicht, doch kurze Zeit darauf ließen sich meine Eltern scheiden. Jetzt war mir klar, was für eine wichtige Rolle das richtige Lied zur richtigen Zeit (oder zur falschen, je nach Verfassung) spielen konnte.

Ich wurde hingebungsvoller Fan, klebte Zeitungsausschnitte meiner Lieblingsgruppen in Notizblöcke, sammelte Autogrammkarten und Starschnitte und wusste dank intensiver Heftchenlektüre alles über meine Bands – manchmal lange bevor ich ihre Musik gehört hatte. Als ich mit Mumps im Bett lag, besorgte mir mein Opa zur Gesundung Kate Bushs The Kick Inside. Und ich erinnere mich noch gut daran, wie ich in der NDW-Ära versuchte, im Elektroladen unserer Kleinstadt Wahre Arbeit, wahrer Lohn von den Krupps zu bestellen. Die Platte kam nie an, dafür DAF – Alles ist gut. Auch gut.

Meine kleine Plattensammlung zu Teeniezeiten umfasste einen bunten Stilmix von Barclay James Harvest bis zu den B-52s – alles selber ausgesucht, auch die Fehlentscheidungen. Kein pickliger Junge hatte mir heiße Tipps ins Ohr geflüstert; auch nicht, als ich per Aushang am Schwarzen Brett der Schule Pink Floyd und Genesis wieder loswerden wollte. Die passten nicht mehr in die Achtziger, befand ich, und kaufte vom Erlös vermutlich Adam and the Ants oder Siouxsie and the Banshees. Und während meine Kommilitoninnen beim Buchmessebesuch unseres Germanistikseminars studienrelevante Nachschlagewerke bestellten, erstand ich bei obskuren Kleinverlagen Bücher über The Smiths und Jesus and Mary Chain.

Warum erzähle ich das? Weil diese prähistorischen Anekdoten der Anfang von allem sind. Weil meine Popbesessenheit nie nachgelassen hat. Kein bisschen. Im Gegenteil, sie ist ein Teil von mir. Auch im fortgeschrittenen Alter bin ich Fan, eine Auskennerin, ein Nerd – obwohl ich dieses Wort nicht mag, es klingt so abwertend, etwas peinlich nach einem lächerlichen Freak. Ich bin kein Freak, ich bin interessiert, ich bin begeistert: Ich will tanzen und gleichzeitig wissen, wer den Sound gebaut hat und wie. Ich will nicht das Gefühl von vorgestern zurück, sondern das von heute spüren.

Ich kenne Frauen, die haben 1986 ihre letzte Platte gekauft, Wham! – The Final, und sich dann vernünftigeren Dingen zugewandt. Kinder, Familie, Beruf. Ich hab das nie verstanden: Kein vernünftiger Mensch hört auf, Filme zu gucken und Bücher oder Zeitschriften zu lesen, nur weil er oder sie sich fortgepflanzt hat. Weshalb also interessieren sich viele Menschen (oft Frauen) ab einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr für aktuelle Popmusik? Zugegeben, als Musikjournalistin bin ich in der privilegierten Situation, dass Neuerscheinungen quasi automatisch in meine analogen und digitalen Postfächer gespült werden – aber man wird ja auch anderweitig gut und einfach versorgt.

"Zeig ihr doch, was sie spielen soll"

Ich spüre den Zeitgeist eher in den Tracks von Jlin und Helena Hauff als in einem Cicero-Artikel, aber das ist natürlich meine ganz persönliche Sichtweise. Dennoch: Warum steht ausgerechnet um die emotionalste, direkteste und intensivste Kunstform eine gefühlt so hohe Mauer?

Oder, anders gefragt:  Warum halten sich Frauen so auffallend zurück, wenn es um die Beurteilung oder auch nur um das Gutfinden von Popmusik geht? Mit Popenzyklopädien männlicher Autoren lassen sich ganze Buchhandlungen füllen. Allein in den letzten paar Jahren erschienen Titel von Thomas Hecken, Diedrich Diederichsen, David Byrne, Karl Bruckmaier, Bob Stanley und Jens Balzer, die nichts weniger im Sinn hatten, als Pop umfassend zu erklären. Die wenigen infrage kommenden Autorinnen denken sich wahrscheinlich, warum ausgerechnet von ihnen auch noch ein Popkompendium verfasst werden sollte. Womit sie vielleicht Recht haben, aber Männer machen sich solche Gedanken ja offensichtlich nicht.

Nun muss und sollte nicht jede gleich ein Buch schreiben (worüber auch immer), aber – um wieder ins Private zu kommen – ich habe schon so einige Frauen ihren Freund fragen hören "Wie heißt doch gleich dieses Lied, das ich so gut finde?". Woran liegt das? 

Vielleicht an einem – sorry für das Verbraten von Klischees – überwiegend männlichen Nerdtum? Wer kennt sie nicht, die obsessiven Crate Digger, die in endlosen Monologen davon berichten, die super rare japanische Pressung irgendeines obskuren Nebenprojekts des Drummers der Band blabla ergattert zu haben. Oder am Tresen mansplainen, dass Madonna eine Nichtskönnerin ist und du unbedingt das Gesamtwerk von King Crimson durchhören solltest, ehe du weiterhin sorglos Open Your Heart vor dich hin pfeifst. Oder diejenigen, die alles, was nach den Beatles kam, als unwichtigen Quatsch abwatschen. Oder dir beim Auflegen ins Mischpult greifen, weil angeblich der Bass brummt.

Peinliche Liebeslieder gibt es nicht

Ach überhaupt, das Auflegen! Vor Jahren bespielte ich eine Party, zusammen mit einem Freund, der hinter unseren Plattentellern Besuch von einem Kumpel bekam – die beiden unterhielten sich, und als mein Freund wieder dran gewesen wäre, sagte der andere "Zeig ihr doch, was sie spielen soll", ohne mich auch nur eines Blickes zu würdigen. Oder der Typ, der mir angewidert zurief, dass ich gleich einpacken könne, wenn ich diesen einen Jahrhundertsong von Nine Inch Nails nicht dabei habe. Ächz und ächz. 

Ja, man braucht ein dickes Fell in solchen Situationen und darf sich nicht einschüchtern lassen. Erst recht nicht von beknackten Kategorien wie dem peinlichsten Lieblingslied, das sich hundertprozentig ein Mann hat einfallen lassen, der nicht zugeben wollte, dass ihm bei Boat On The River ganz weh ums Herz wird. Peinliche Lieblingslieder und ironisches Gutfinden gibt es nicht. Nur Songs, die man mag, egal ob von Blood Orange, Roosevelt oder Roxette.

Dass die abschätzig gemeinte Bemerkung eines Jugendfreunds, Phillip Boa mache Mädchenmusik, eigentlich ein Kompliment und Gütesiegel ist, reibe ich ihm immer wieder gern unter die Nase. Ich bin fest davon überzeugt, dass eine Frau nicht nur ein eigenes Zimmer, sondern auch eine eigene Plattensammlung braucht – egal wie erratisch sie sein mag. Man kann sehr wohl ohne das Weiße Album und Pet Sounds leben (wie ich zum Beispiel), aber nicht ohne diesen einen Song der Pet Shop Boys, zu dem man sich die Füße wund getanzt hat. Und selbstverständlich auch nicht ohne Wham! – The Final, klar. Don’t believe the so-called Kanon.

Ich will an dieser Stelle aber nicht so tun, als wäre ich schon immer mit unerschütterlichem Selbst- und Sendungsbewusstsein gesegnet gewesen: Dass ich (ich!) mal über Musik schreiben, Musikerinnen und Musiker interviewen oder gar zu speziellen Popthemen befragt werden könnte, hatte ich nie in Betracht gezogen. In der Spex und den anderen Musikmagazinen, die ich ehrfürchtig las, schrieben fast nur Männer, außer einigen wenigen Ausnahmen wie den Grether-Schwestern oder Clara Drechsler.

Doch dann gründete der Freund vom Freund einer Freundin ein Internetkulturmagazin, suchte jemanden für die Musikredaktion – und diese Freundin schlug mich vor. Statt sofort freudig zuzusagen, steckte ich erst mal verschüchtert den Kopf in den Sand. Ich und öffentlich schreiben? Nein, lieber nicht, das kann ich doch gar nicht.

Die Leute vom Magazin blieben aber hartnäckig und ich stieg schließlich doch ein. Seitdem habe ich viele andere Popjournalistinnen, Musikerinnen, weibliche DJs, Radiomoderatorinnen, Labelbetreiberinnen, Veranstalterinnen und Promoterinnen kennengelernt. Es ist ja nicht so, dass es keine Frauen im Popbetrieb gibt. Sie machen halt nur nicht so großes Aufhebens von sich, sondern kümmern sich um das, was ihnen wichtig ist: die Musik.

Christina Mohr war schon im Mutterleib Popmusikfan, seit einigen Jahren schreibt sie auch darüber: im "Missy Magazine", für "Spex", "Konkret" und einige andere Publikationen. Hauptberuflich arbeitet sie für einen Sachbuchverlag in Frankfurt, wo sie auch (sehr gerne) wohnt. Sie ist Gastautorin für 10nach8.


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