Sie müssen jetzt sehr tapfer sein. Sie werden nämlich ausgeraubt, enteignet, abgezockt. Und zwar von Mario Draghi höchstpersönlich, dem Präsidenten der Europäischen Zentralbank (EZB), der dem deutschen Sparer den Zins wegnimmt und damit der Massenverelendung im Alter den Weg bereitet.
So ungefähr ist die Debattenlage in Deutschland, seit die Bundesbank unlängst verkündet hat, dass die reale Rendite des deutschen Volksvermögens im ersten Quartal dieses Jahres negativ war, also Vermögen nach Abzug der Inflation vernichtet wurde. Und dennoch wird das Bild vom gebeutelten Sparer und der dadurch bedingten Altersarmut der Realität nicht gerecht.
Das liegt zum einen daran, dass sich das Geldvermögen der privaten Haushalte in Deutschland – Bargeld, Bankeinlagen, Aktien, Versicherungspolicen – zwar in den ersten drei Monaten dieses Jahres tatsächlich verringert hat, dafür aber in den Jahren zuvor kräftig gestiegen ist. Nach Daten der Bundesbank belief sich das Geldvermögen im Jahr 2010 – da hat Draghi die Präsidentschaft der EZB übernommen – auf 4.546 Milliarden Euro. Aktuell beträgt es 5.875 Milliarden Euro.
Da möchte man gerne noch etwas enteignet werden
Anders gesagt: Während Draghis Amtszeit sind die Deutschen um mehr als 1.000 Milliarden Euro reicher geworden. Da bleibt auch nach Berücksichtigung der Inflation noch genug übrig. Selbst wenn die Schulden abgezogen werden, ist das Vermögen gestiegen. Wenn das diese berühmte Enteignung sein soll, dann möchte man doch gerne noch ein wenig mehr enteignet werden.
Keine Frage: Die Vermehrung des Geldvermögens ist nicht nur darauf zurückzuführen, dass sich das angelegte Geld vermehrt hat. Es ist schlicht auch mehr Geld angelegt worden. Aber das konnten sich die Deutschen nur leisten, weil mehr Arbeitsplätze geschaffen wurden, die Löhne zulegten und ihnen deshalb mehr Einkommen stand. Wer nämlich nichts verdient, der kann auch nichts sparen. Und die niedrigen Zinsen haben entscheidend dazu beigetragen, dass in Deutschland so viele Arbeitsplätze entstanden und die Löhne gestiegen sind. Wo das Geld herkommt, ist am Ende egal. Hauptsache es liegt auf dem Konto.
Wichtiger als das Zinsniveau sind die Renten
Und noch etwas kommt hinzu: Für die meisten Bundesbürger ist das Zinsniveau nicht die relevante Größe für die Altersvorsorge. 30 Prozent der Deutschen haben per Saldo, also abzüglich der Schulden, praktisch keine Ersparnis. Es nützt ihnen also überhaupt nichts, wenn die Zinsen steigen. Dafür nützt es ihnen sehr wohl etwas, wenn die Renten steigen. Und was tun die Renten gerade? Genau: Sie steigen. Und zwar alleine in diesem Jahr um 3,22 Prozent in den alten Bundesländern und um 3,37 Prozent in den neuen Bundesländern.
Erst diese Woche hat die Bundesregierung eine Stabilisierung des Rentenniveaus bis zum Jahr 2025 beschlossen. Das kann sich das Land leisten, weil die Konjunktur so gut läuft. Und warum läuft die Konjunktur so gut? Sie haben es erraten: Weil die Geldpolitik die Wirtschaft stützt. Anders gesagt: Die Zinsdebatte ist bei Lichte betrachtet eine Gutverdienerdebatte.
Der Mythos soll Ressentiments gegen die EU schüren
Das soll nun nicht bedeuten, dass Mario Draghi immer alles richtig gemacht hat. Man kann lange darüber streiten, ob seine aggressive Geldpolitik nicht Risiken mit sich bringt – zum Beispiel weil die EZB möglicherweise nicht über genug Spielraum verfügt, wenn der nächste Abschwung kommt. Aber so argumentieren die Anhänger der Enteignungsthese nicht. Sie verbreiten den Mythos vom Raub an den Deutschen, weil er so unmittelbar einleuchtend klingt, auch wenn die Interpretation der Dinge mit den Fakten nicht in Einklang zu bringen ist. Nicht einmal Bundesbankpräsident Jens Weidmann – alles andere als ein Freund des billigen Geldes – kann sich über die vermeintliche Enteignung der Sparer so richtig empören.
Und wie jeder Mythos hat auch dieser eine Funktion: Er soll – zumindest bei der radikaleren Fraktion derjenigen, die ihn verbreiten – Ressentiments schüren gegen die EZB, den Euro und die Europäische Union im Allgemeinen, um den Prozess der europäischen Einigung zu delegitimieren. Bis die Errungenschaften der Nachkriegszeit in Trümmern liegen und an die Stelle des Europas der Einheit ein Europa der Nationen tritt. Was ja bekanntlich nicht ganz so gut funktioniert hat.
Den Preis dafür würden genau jene bezahlen, die nun als Opfer der europäischen Geldpolitik inszeniert werden, obwohl sie in der Regel ganz andere Sorgen haben als die Höhe des Leitzinses: Die einfachen Leute.