| | Eine Szene aus Oliver Frljićs Theaterstück "Aleksandra Zec" in Rijeka © HDK Rijeka |
Der kroatische Regisseur Oliver Frljić beschäftigt sich mit gesellschaftlichen Konflikten und lotet die Grenzen der künstlerischen Freiheit aus. Damit hat er sich auch international einen Namen gemacht; in der vergangenen Theatersaison führte er zum ersten Mal Regie im Berliner Maxim-Gorki-Theater und brachte eine Vorstellung auf die Bühne, die sich mit der deutschen Rechten beschäftigte.
Es ist der Frühling des Jahres 2014. Ich fahre von Graz nach Rijeka, um Frljićs neue Inszenierung zu sehen. Sie trägt einen Titel, der auf die Mehrheit der kroatischen Öffentlichkeit beunruhigend wirkt: Aleksandra Zec. Das ist der Name eines zwölfjährigen Mädchens serbischer Nationalität, das im Dezember 1991 zusammen mit seiner Mutter aus ihrem Haus im Zentrum von Zagreb entführt, zu einem nahe gelegenen Ausflugsberg gebracht und dort getötet wurde. Mitten in der Nacht. Mit verbundenen Augen. Vor der Hinrichtung bot ihr einer der fünf Angehörigen der Reserveeinheit der kroatischen Polizei eine Coca-Cola an. Dann führten sie die Mutter zum Rand der Grube, die als eine Art Mülldeponie diente, und schossen. Danach war das Kind an der Reihe. Alle fünf wurden freigesprochen. Das sind die Tatsachen.
Am Eingang zum Theater protestieren Kriegsveteranen, die Fotos von Kindern hochhalten, die während der Neunzigerjahre getötet wurden. Wer mache eine Theatervorstellung über die toten kroatischen Kinder?, fragen sie. Ich gehe an ihnen vorbei, traurig, weil sie nicht verstehen, dass die Geschichte von der Tragödie des serbischen Mädchens auch als jene universelle Auseinandersetzung mit dem Kinderleiden verstanden werden kann, die sie so laut einfordern.
Aleksandra Zec ist zugleich das erste Theaterstück, das ich nach der Geburt meines Sohnes sehe. Überall auf der Bühne die vergrößerten forensischen Fotos der Leichen von Mutter und Tochter, sie tragen Pantoffeln und Bademäntel, liegen in der Grube, teilweise von Schnee bedeckt. Ich kann dem Geschehen auf der Bühne kaum folgen, da ich genauso wie der Rest des Publikums mit den Tränen kämpfe, genauso wie der Rest des Publikums werde auch ich am Ende nicht applaudieren, ich werde in aller Stille den Zuschauerraum verlassen und mich beeilen, nach Hause zu kommen, um dort mitten in der Nacht mein Kind zu umarmen.
Der Konflikt dauert noch an
Die Inszenierung von Oliver Frljić riss noch ein anderes schmerzhaftes Thema an. Im zweiten Teil treten zwölfjährige Mädchen auf und unterhalten sich mit der Schauspielerin, die die ermordete Aleksandra Zec spielt. Obwohl wir das damals im Jahr 2014 noch nicht wissen konnten, kämpfte eines der Mädchen, das an der Vorstellung beteiligt war, in diesem Augenblick mit Gefühlen der Angst, des Unbehagens und der Schuld. Ihr Name war Nina und sie war, genauso wie Aleksandra, serbischer Herkunft. Auch konnten wir damals nicht wissen, dass ein anderer Regisseur einen Dokumentarfilm über Nina plante, der auf dem diesjährigen Filmfestival in Cannes den Doc Alliance Selection Award gewann. Der Regisseur Nebojša Sljepčević nannte seinen Film Srbenka, ein fehlerhafter Name für eine Frau serbischer Nationalität, den Nina verwendete, als sie mit sieben Jahren erfuhr, dass auch sie eine Serbin sei.
Die Arbeit an der Theatervorstellung von Oliver Frljić bot ihr die Gelegenheit, die Gefühle zu erforschen, die diese Erkenntnis in ihr hervorgerufen hatte: von dem Ärger auf die Eltern, über den Minderwertigkeitskomplex und das Gefühl, nicht dazuzugehören, bis hin zu jener Unsicherheit, die der zunehmende kroatische Nationalismus bei den Angehörigen der Minderheiten erzeugte. Im Unterschied zu Frljićs historischer Perspektive entfacht Sljepčević mit seinem Film eine Beklemmung in der Gegenwart. Wie ist es möglich, dass ein 2001 geborenes Kind, das in einem demokratischen Staat der Europäischen Union lebt, weint, weil es zur "falschen" Nationalität gehört? Zeigt sich darin, dass für Nina und die anderen serbischen Kinder in Kroatien jener kriegerische Konflikt, der offiziell vor ihrer Geburt beendet wurde, noch immer andauert? Als bitterer Kommentar zu dieser Frage könnte der neuerdings gestartete Versuch konservativer katholischer Verbände verstanden werden, ein Referendum zu organisieren, dessen Ziel es ist, die parlamentarischen Vertreter der nationalen Minderheiten von den Entscheidungsprozessen zu wichtigen Staatsfragen fernzuhalten. Als zweiter Kommentar könnte der Auftritt des extrem rechten Sängers und Sympathisanten der Ustaša-Bewegung Marko Perković Thompson beim Empfang der kroatischen Fußballnationalmannschaft in Zagreb aufgefasst werden. Durch diesen Schachzug wurden die Minderheiten von den großen Feierlichkeiten ausgeschlossen, und der Erfolg der Fußballspieler wurde so zum Sieg eines Teils der Kroaten, nicht aber aller Bürger Kroatiens, gemacht.
Und es gab einen dritten Kommentar, der die Unfähigkeit der kroatischen Öffentlichkeit signalisiert, sich mit dem Riss in der Gesellschaft auseinanderzusetzen: Die neue Kulturdezernentin der Stadt Zagreb kündigte an, Künstler vom Schlage eines Oliver Frljić nicht mehr mit öffentlichen Mitteln unterstützen zu wollen, da das, was sie betrieben, keine Kunst sei, sondern politischer Aktivismus. Der abschließende bittere Kommentar ist die letzte Szene des Dokumentarfilms Srbenka, der symbolisch den Abschied darstellt. Nina geht, beschleunigt ihre Schritte, als wolle sie fortlaufen.
In den vergangenen Jahren sind 350.000 kroatische Staatsbürger allein nach Deutschland fortgelaufen. Ich bin eine von ihnen.
Aus dem Kroatischen von Alida Bremer
Ivana Sajko ist eine kroatische Prosa- und Theaterautorin, die in Berlin lebt. In deutscher Übersetzung sind bisher erschienen: "Rio bar" (2008), "Archetyp: Medea. Bombenfrau. Europa: Trilogie" (2008), "Trilogie des Ungehorsams" (2012), "Auf dem Weg zum Wahnsinn (und zur Revolution) Eine Lektüre" (2014) und "Liebesroman" (2017). Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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