Da musst du jetzt durch Was passiert, wenn eine junge Geflüchtete und eine Deutsche zusammenwohnen? Unsere Autorin erlebt es seit einigen Monaten mit Senait, die als 17-Jährige aus Eritrea kam. VON SIMONE SCHMOLLACK |
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| | Da musst du jetzt durch. © Tess Nebula/unsplash.com |
Vor ein paar Tagen war es wieder mal so weit. Senait verschanzte sich in ihrem Zimmer, reagierte nicht auf Klopfen, nicht auf die WhatsApp, die ich dann manchmal an sie schicke. Kein Wort, kein Laut von ihr. In Momenten wie diesen weiß ich: Jetzt braucht sie Ruhe, jetzt will sie mit niemandem reden und niemanden sehen.
Mittlerweile kenne ich das. Und frage nicht mehr, ob ich ihr helfen kann. Einen Tee kochen vielleicht, etwas Obst schälen, Kekse bringen. Ich frage auch nicht mehr, was sie bedrückt. So, wie ich das anfangs getan habe, als sie eingezogen war. Heute ahne ich ihre Reaktion. Sie wird den Kopf schütteln und sagen: "Es ist nichts, gar nichts, wirklich."
Seit einigen Monaten wohnt Senait im Zimmer meiner Tochter, die vor ein paar Jahren ausgezogen ist, um in einer anderen Stadt zu studieren. Schon damals, vor dem "Flüchtlingssommer 2015", wollte ich eine geflüchtete Frau in meiner Wohnung aufnehmen. Ich wollte helfen, direkt und persönlich, und nicht nur darüber reden und schreiben, wie das Journalist*innen gewöhnlich tun. Damals hat das aus unterschiedlichen Gründen nicht geklappt. Aber jetzt, seit so viele Menschen aus Afrika, Afghanistan, Irak und Syrien hier sind, ist es etwas unkomplizierter, ein Zimmer an Menschen zu vermieten, die in Deutschland Asyl suchen.
Senait ist vor drei Jahren aus Eritrea geflohen. Damals war sie 17, sie ist zur Schule gegangen und hatte jeden Tag Angst. Angst, dass die Armee sie einsammelt, vor der Schule, in ihrem Elternhaus, auf der Straße. Seit die Nachbarländer Äthiopien und Eritrea verfeindet sind, müssen Frauen in Eritrea zur Armee, wenn sie 18 Jahre alt geworden sind. In der jüngsten Vergangenheit holten Söldner aber auch schon jüngere Mädchen, manche waren erst 15 oder 16. Die Soldaten drangen in Häuser ein und nahmen die Mädchen mit.
Das alles wollte Senait nicht. Deshalb ist sie aus dem Land, das sie liebt, geflüchtet. Sie weiß, was Militär bedeutet. Eine ihrer beiden älteren Schwestern hat die Armee förmlich "geschluckt", weder Senait noch irgendjemand aus der Familie hat Kontakt zur Schwester. Senaits Vater ist bei der Armee, die Tochter kennt ihn praktisch nicht, früher, als Senait klein war, war er fast nie zu Hause. Senait ist dem Leben, das sie in ihrer Heimat erwartet hätte, über Nacht entflohen. Ohne jemandem Bescheid zu sagen. Keiner Freundin, keiner Lehrerin, nicht einmal die Mutter wusste davon. So erzählt es Senait.
Und nun ist die junge Frau – nach der Flucht, die sie über Äthiopien, Sudan, Libyen und Italien nach Deutschland führte – in Berlin, in einem 28 Quadratmeter großen Zimmer bei einer deutschen Familie. Hier geht es ihr gut, sie geht zur Schule, sie fühlt sich sicher und aufgehoben. Senait kann ausgelassen und fröhlich sein, vor allem im Wasser: in Badeseen, im Freibad, im Meer. Dann schwimmt und taucht sie und spielt mit dem Wasser wie ein Kind. Dann scheint sie alles um sich herum zu vergessen. Manchmal aber wechselt ihre Stimmung plötzlich, im Handumdrehen wird aus der jungen, lebendigen Frau eine Person, die sich verkriecht und niemanden an sich heranlässt. Dann jagen Dämonen durch ihren Kopf, die sie nicht bekämpfen kann. Die Erinnerung an die Heimat, die Sehnsucht nach der Mutter, dem kleinen Bruder. Die Erlebnisse und die Gewalt während der Flucht. Dann sagt Senait Sätze wie: "Mein Kopf ist kaputt."
Dann kann ich sie auch nicht dazu bringen, mit runter in den Hof zu kommen, wie neulich, als sie sich unverhofft in ihrem Zimmer verkroch. Die Hausgemeinschaft hatte sich spontan entschlossen, am Abend zu grillen. Senait hatte sich darauf gefreut. Aber dann sagte sie: "Ich will nicht." Ihr Blick sagte mir: Frag nicht weiter, bitte.
Seit Senait bei mir wohnt, ist vieles anders. In meinem Leben. In ihrem Leben. Zwei völlig verschiedene Kulturen treffen aufeinander, zwei zum großen Teil unterschiedliche Moralvorstellungen, zwei andersartige Weltsichten. Bereicherung und Herausforderung gleichermaßen, für beide Seiten. Und die einzigartige Möglichkeit, gegenseitige Vorurteile zu entsorgen, zumindest aufzuweichen.
Da ist zum Beispiel die Sache mit der Religion
Senait heißt eigentlich anders. Ihr richtiger Name soll in diesem Text keine Rolle spielen, weil er für diese Geschichte irrelevant ist. Relevant hingegen ist das, was wir beide miteinander erleben. Da ist zum Beispiel die Sache mit der Religion. Senait ist eritreisch-orthodox, eine Glaubensrichtung einer Patriarchatskirche mit strengen Regeln und mehreren, zum Teil wochenlangen Fastenzeiten im Jahr. Ich bin überzeugte Atheistin. Beides passt zusammen wie Mecklenburg-Vorpommern und Bayern. Senait trägt ein Holzkreuz um den Hals, die Wände in ihrem Zimmer hat sie tapeziert mit eritreischen Gottespostern, Marienbildern, einem Rosenkranz. Sie betet vor dem Essen und steht jeden Sonntag früh auf, um noch im Dunkeln in eine eritreisch-orthodoxe Kirche am Stadtrand zu fahren. Wenn sie fastet, isst sie weder Fleisch noch Milchprodukte. Ich brauchte eine Weile, um mir die Regeln zu merken. Anfangs steckte meine Gabel schon im Essen, während sich Senait mehrfach bekreuzigte. Während der Fastenzeit kochen wir anders. Für sie kein Problem, aber ich muss mich jedes Mal daran erinnern, was ich nicht ins Essen tun darf. In dieser Zeit wird sie so dünn, dass ich fürchte, sie bricht irgendwann auseinander.
Wenn sie von ihrem Gott redet, tut sie es sehr leidenschaftlich. Ich höre zu, ich frage nach. Manchmal habe ich das Gefühl, sie möchte, dass ich ihrer Religion ebenfalls folge. Aber ich glaube nun mal nicht ans Jenseits und an ein Leben nach dem Tod, jede Form von Spiritualität ist mir suspekt. Das sage ich Senait nicht. Aber sie spürt es, runzelt die Stirn und sagt: "Das geht nicht. Jeder Mensch braucht einen Gott."
Wenn wir auf der Straße muslimische Frauen mit Kopftuch treffen, sagt sie: "Das ist nicht richtig." "Doch", sage ich: "Die Frauen, die es wollen, dürfen ein Kopftuch tragen." Senait ist kritisch gegenüber dem Islam und kritisch gegenüber anderen Glaubensrichtungen, die von ihrem Gottesbild abweichen. Sie versteht nicht, dass es in Asien viele verschiedene Religionen mit unzähligen Göttern gibt. Ich versuche, ihr das zu erklären und sage so etwas: "Jeder Mensch darf an das glauben, woran er und sie möchte." Ich verwende Begriffe wie Toleranz, Religionsfreiheit, Gleichberechtigung. Sie versteht die Wörter, beharrt aber darauf, dass ihre Religion die einzig richtige ist. Im Laufe der Zeit habe ich verstanden, dass es egal ist, ob sie meinen Aussagen folgt oder nicht. Und sie hat verstanden, dass mein Leben ohne Gott nicht leer, richtungslos und unvollständig ist.
Als Senait noch nicht allzu lange bei mir war, hatten uns zwei meiner Freunde zum Sonnenuntergang auf deren Dachterrasse eingeladen. Senait freute sich darauf, sie verschwand in ihrem Zimmer und begann, sich zu schminken. Kurz bevor wir uns auf den Weg machten, fiel mir ein, dass ich ihr sagen sollte, dass es sich bei den Freunden um ein schwules Paar handelt. Zwei Männer, die miteinander verheiratet sind, eine kleine Familie. Ihr Blick verriet mir, dass sie überlegte, ob sie die Botschaft richtig verstanden hatte. Zwei miteinander verheiratete Männer? Sie sagte: "Das ist nicht richtig." In Senaits Vorstellungen besteht eine Familie aus Vater, Mutter, vielen Kindern. Frauen, die sich lieben, Männer, die auf der Straße Hand in Hand gehen, das passt nicht in ihr Weltbild: "Das hat Gott nicht gewollt." "Doch", antworte ich: "Gott hat gewollt, dass jeder Mensch den Menschen lieben kann, den er lieben will."
Ebenso wenig versteht sie die Verstrickungen meines Lebens und meine frühere Patchworkfamilie: Der Vater meiner Tochter war nach unserer Beziehung mit einer anderen Frau verheiratet, mit ihr hat er ein weiteres Kind. Die beiden sind mittlerweile ebenfalls getrennt, beide haben neue Partner. Meine Tochter hat zu allen besten Kontakt. Es irritiert Senait, dass ich nicht verheiratet bin. Und den Satz, dass man mit jemandem zusammen sein kann, ohne gemeinsam in einer Wohnung zu leben, kann sie mittlerweile fast singen. So oft hab ich ihn schon gesagt. "Deutschland", sagt sie dann. Und: "Tss tss. Deutschland."
Vor ein paar Wochen feierte unser Haus wie jedes Jahr ein Sommerfest. Mit Buffet, Wein, Musik und allem Pipapo. Es war ein fröhliches, lautes Fest. Senait unterhielt sich mit den anderen Hausbewohner*innen, als gehörte sie schon immer dazu. Nur einmal sagte sie: "Hui, die Musik. Was ist das?" Es war dieser typische Partymix aus Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern. "Gefällt mir nicht", schob sie hinterher. Sie hört ausschließlich orthodoxe Gesänge, schwere, getragene Hymnen, gern laut und gern in Dauerschleife. "Da musst du jetzt durch", sagte jemand aus dem Haus. Später hat Senait sogar getanzt. Simone Schmollack ist Journalistin und Buchautorin. Sie war über zehn Jahre Autorin und Redakteurin der "taz". Von Dezember 2017 bis Juni 2018 war sie Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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