Es gibt eine deutsche Eigenschaft, die ich lange Zeit, ganz ehrlich, in vielerlei Ausprägung spießig fand: die öffentliche Ordnung. In dem Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, waren die Straßen, Gehwege und Plätze sauber. Meistens jedenfalls. Da schmiss man keinen Müll auf die Straße. Und in manchen Gegenden wurde samstags sogar vor dem eigenen Haus die Straße gekehrt – was ich lange sogar verdammt spießig fand.
Natürlich stimmte das Bild vom besenreinen Deutschland nie überall. Es gab immer schon Flecken. Trotzdem hörte ich wie auch die meisten meiner Freunde zu Hause und in der Schule häufig diese eine Regel: Heb deinen Dreck auf und trag ihn zum Mülleimer. Das lernte sich wie das Stehenbleiben an der roten Ampel.
Natürlich ließ man trotzdem mal ein Kaugummipapier fallen, schon aus pubertärem Trotz. Meistens aber hatte das dann doch irgendwie etwas Peinliches. So wie in der Nase bohren. Das tat man nicht. Warum ist vielen dieses Gespür heute verloren gegangen? Oder hatten sie es etwa nie?
Tüten, Becher, Burgerschachteln
Unlängst sah meine Mutter, wie ein paar junge Mädchen achtlos Papier fallen ließen. In einem Laden, direkt neben einem Kleidungsständer. Sie hob es auf, sprach die Mädchen freundlich an (sie ist wirklich ein grundfreundlicher Mensch): "Ihr habt da was verloren." Antwort: "Du doofe F…." Das hat meine Mutter schockiert. Genauso wie es sie schockiert, wenn in der Fußgängerzone ihrer Kleinstadt alte Plastiktüten, Burgerverpackungen oder Plastikbecher herumliegen.
Doch auch ich ertappe mich dabei, dass ich zunehmend genervt bin, wenn ich die Müllberge sehe, die sich am Wochenende in den Berliner Parks und rund um die Seen türmen. Es scheint für viele Leute einfach ganz normal, die Reste ihrer Partys und Picknicks liegen zu lassen – und das durchaus auch in den gutbürgerlichen Gegenden. Ohne die wunderbaren Straßenkehrer von der BSR glichen die Berliner Naherholungsgebiete einer riesigen Müllhalde. Und ohne die Flaschensammler wäre der Recyclingweltmeister Deutschland auch diesen Titel längst los.
Verantwortung für das Gemeinwesen
Dabei scheint die Sauerei längst kein Berliner Phänomen mehr zu sein. In Stuttgart, einst die Hauptstadt des Gehsteigkehrer-Ländles, scheint das Problem ein ähnliches zu sein. Auch dort kämpft die Stadtreinigung nach dem Wochenende mit dem Müll.
Vielleicht ärgert mich all das auch nur, weil ich selbst langsam verspießere? Nein, das kann nicht die einzige Erklärung sein. Ich fand es auch als Jugendliche schon blöd, im Park über Plastiktüten zu stolpern. Nur war das damals tatsächlich noch selten. Weil – so meine nachträgliche Erklärung – der öffentliche Raum noch etwas Schützenswertes war. Und weil sich viele Leute auch für die Plätze, die ihnen nicht privat gehörten, verantwortlich fühlten und wollten, dass sie schön sind.
Natürlich war dieser Drang nach Ordnung damals auch oft übertrieben. Dass Restaurants ihre Stühle nicht auf die Gehsteige stellen durften, war genau das bisschen zu viel. Trotzdem stimmte das Grundgefühl: Neben der Verantwortung der Politiker für den Staat und der des Privatmenschen für sein Eigentum gab es auch noch die des Bürgers: für das Gemeinwesen.
Feiern, Grillen – und dann noch schnell den Müll wegbringen
Es gibt Länder, in denen war und ist dieses Gefühl nicht sehr ausgeprägt. Oft sind es solche, in denen sich der Staat schon lange nicht gut um seine Bürger kümmert, die sich daher nur auf sich und ihre Familien verlassen können – und damit auch kein Gefühl von Solidarität für ein kaum existierendes Gemeinwesen empfinden. Das Gefühl von Verantwortung hört dann oft vor der eigenen Haustür auf – entsprechend dreckig ist der öffentliche Raum.
Das ist manchmal verständlich, hat aber fatale Folgen. Die, die es sich leisten können, flüchten in geschützte Räume, in private Countryclubs, in Shoppingmalls, in Golfclubs, die sauber sind, aber nur eine Pseudo-Öffentlichkeit herstellen. Denn dort kommen natürlich nur manche rein. Die, die es sich nicht leisten können, bleiben im Dreck.
So ein Land will ich nicht. Ich lebe gern dort, wo die Plätze schön sind und für alle zugänglich. In dem jeder draußen grillen und feiern kann, seinen Müll aber danach wegräumt, damit andere danach dort wieder gerne den Tag verbringen. Es kann doch nicht sein, dass wir über die Beseitigung der Plastikberge im Pazifik nachdenken, aber in Stuttgart der Untere Schlossgarten im Müll versinkt.
Plogging, Kehrwoche – das Ziel bleibt dasselbe
Ganz allein bin ich mit dieser Sicht offensichtlich nicht. In Berlin hat sich unlängst die "Aufheben"-Bewegung gegründet, eine Art Anti-Kaugummipapier-Bewegung. Ihre so banale wie geniale Idee: Wenn jeder pro Tag drei Stücke Müll aufhebt, ist die Stadt gleich viel sauberer.
Aus Schweden kommt gerade das Plogging. Dabei geht es darum, beim Joggen einfach den Müll aufzusammeln, an dem man so vorbeikommt. Ist angeblich eine Art Intervalltraining: Das permanente Stoppen und Anlaufen trainiert die Muskulatur und das zusätzliche Gewicht macht Muckis in den Armen. Plogging klingt hipper als Kehrwoche, am Ende geht es aber um das gleiche: ein schönes Land. Ich habe noch keine Plogger gesehen, aber ich werde es am nächsten Wochenende mal selbst probieren.
Noch besser wäre allerdings, es würde sich das banale "Das tut man nicht" wieder durchsetzen – und ich könnte Kniebeugen ohne Müllbeutel machen. Denn mal ganz ehrlich: Nach einer Party noch schnell die Flaschen zum Mülleimer zu bringen kann doch so schwer nicht sein. Oder?