Freitext: Florian Werner: Sommer der Psychedelik

 
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22.08.2018
 
 
 
 
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Sommer der Psychedelik
 
In größter Hitze drei Tage Musik auf den Ohren: Ist man nach dem Berliner Pop-Kultur-Festival noch derselbe Mensch? Notizen aus der Endlosschleife
VON FLORIAN WERNER

 
Neneh Cherry im Kesselhaus der Berliner Kulturbrauerei (© Camille Blake/Pop-Kultur)
 

Ich wache auf, ein Blick auf den Wecker: Es ist morgens um drei, und ich habe ein Fiepen im rechten Ohr, als hätte sich ein Schwarm Moskitos in meinem Gehörgang eingenistet; oder ist die amerikanische Techno-Produzentin Karen Gwyer eingezogen und legt gerade die extrem hochgepitchte Version eines ihrer Minimal-Tracks auf? Es ist nur mein Tinnitus, Andenken an das Pop-Kultur-Festival in Berlin. Wer sich drei Tage in Folge jeden Abend sieben Stunden lang mit Musik berauschen lässt, darf sich aber auch echt nicht wundern.
 
Auftritt Mark Ernestus‘ Ndagga Rhythm Force. Der große Techno-Impresario Ernestus steht selbst gar nicht auf der Bühne, aber das von ihm produzierte achtköpfige Mbalax-Ensemble aus Senegal spielt wunderbar ohne ihn. Fluide Polyrhythmik, die den mit Viervierteltakt und Humtata sozialisierten europäischen Durchschnittshörer ziemlich ratlos zurücklässt: Der Beat zerrt mächtig auf die Tanzfläche, aber wo zum Teufel ist die Eins? Ein Narr, wer darauf zu tanzen versuchte! Die meisten Besucher versuchen es denn auch erst gar nicht, ein paar junge Männer in der ersten Reihe stecken der gymnastisch-grazilen Vortänzerin Fatou Wore Mboup stattdessen ein paar Geldscheine zu – gerade so, als wären wir hier nicht bei einer von der Senatsverwaltung finanzierten Kulturveranstaltung, sondern … Die Sängerin Mbene Diatta Seck geht als Anstandsdame couragiert dazwischen und kassiert die Scheine. Ich habe das Gefühl, einer ziemlich vertrackten Familienaufstellung beizuwohnen, bei der die Sängerin den Part der Mutter einnimmt, während ihre vortanzende Tochter dem Publikum den Kopf verdreht und der Talking-Drum-Virtuose Modou Mbaye als ältester Sohn mit seiner sprechenden Trommel ständig dazwischenquatscht. Vorne links sitzt Papa und schlägt stoisch grinsend den Grundtakt, als ginge ihn das alles nichts an.
 
Für alle, die nicht dabei waren: Pop-Kultur ist so etwas wie eine Leistungsschau der avancierten Gegenwartsmusik, die in diesem Jahr zum zweiten Mal auf dem industrieromantisch verklinkerten Gelände der ehemaligen Schultheiss-Brauerei in Berlin-Prenzlauer Berg stattfindet. Wie Rock am Ring, nur ohne Rock (im Sinne von ’n‘ Roll) und ohne Ring (im Sinne von Nürburg), sondern mit etwa 100 Konzerten, Panels und Performances. Um sich eine Vorstellung vom Stilbewusstsein der Veranstaltung zu machen, muss man nur die Plakate anschauen, mit der sie beworben wird: Im vergangenen Jahr waren sie von flauschigem cat content bevölkert, dieses Jahr beherrschen Bergmotive die Szene, wobei das verwendete Bildmaterial entweder tatsächlich von verblichenen Fünfzigerjahre-Postkarten stammt oder aber erfolgreich durch den Vintage-Filter gejagt wurde. Da liegt dann ein sehr malerischer, frisch gewaschener Hütehund vor einer sehr malerischen Alpenkulisse und daneben steht: „Neneh Cherry“. Ob Madame Cherry das Plakat im Vorfeld gesehen und abgesegnet hat?

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