Größer sein als die Furcht Im Jemen habe ich den Krieg erlebt. Gefürchtet habe ich mich nie, die Angst kam später. Heute weiß ich: Man muss sie zulassen, aber sich von ihr nicht beirren lassen. VON ALTAF MERZAH |
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| | In den Bergen lernte unsere Autorin, ihre Angst zu überwinden. © Janis Oppliger/unsplash.com |
2017, nach der Wahl Donald Trumps, sah ich die Bilder des US-amerikanischen Straßenkünstlers Shepard Fairey : schöne, junge, kraftvolle Frauen, sichtbar ethnisch-kulturellen Minderheiten angehörend, aber in den Farben der amerikanischen Flagge gemalt und unter ein Motto gesetzt: "We the people" ("Wir, das amerikanische Volk"). Eine der Frauen ist eine Muslimin, sie trägt die Fahne als Hijab und starrt den Betrachter aus großen Augen durchdringend an. " We the people are greater than fear", steht unter ihr: "Wir, das Volk, sind größer als die Angst." Ich starrte zurück, glaubte aber nicht, dass das stimmte. Denn wenn das Volk größer wäre als die Angst, hätte der Logik dieser Poster zufolge Trump die Wahl gar nicht gewinnen können. Außerdem schien mir der Satz im krassen Widerspruch zu den globalen Entwicklungen unserer Zeit zu stehen, vor allem zu dem, was in meinem Land geschieht, im Jemen . Ich erinnere mich an die Angst, die vom Volk Besitz ergreift, wenn es die Flugzeuge mit den Bomben nahen hört. Wie die Angst die Mütter im Griff hat, die um ihre Kinder fürchten. Wie sie zu einer alltäglichen Angelegenheit wird, mit der man klarkommen muss. Wie junge Männer und Frauen schnell heiraten, weil sie fürchten, dass der Tod ihnen zuvorkommen wird, ihnen den Genuss nehmen wird, die Liebe kennenzulernen. Die Angst ist überall, in den Häusern, den Schulen , Krankenhäusern, Straßen und, am schlimmsten, in den Herzen. Die Angst vor dem Hunger treibt viele Männer und sogar Kinder dazu, am Krieg teilzunehmen, zu kämpfen, zu töten. Noch mehr als vor dem eigenen Tod haben die Menschen Angst, diejenigen zu verlieren, die sie lieben; davor, sie nicht beschützen zu können. Es hilft nicht zu leugnen Als ich noch im Krieg war, dachte ich, dass ich selbst stark und ohne Angst sei; dass nur die anderen Angst hätten. Ich empfand mehr Schmerz als Angst, Schmerz darüber, dass die Menschlichkeit in die Brüche ging, dass das Erbarmen dahinschwand und dass die Hoffnung jeden Tag neu ermordet wurde. Aber als ich dem Krieg entkommen war, merkte ich, dass ich mich plötzlich vor Dingen fürchtete, vor denen ich mich vorher nie gefürchtet hatte: vor Gewitter, vor Insekten und vor Bergen, vor allem vor Bergen. Anfangs blieb mir nichts anderes übrig, als diese Angst zu leugnen. Ich dachte, dass die Tatsache, dass ich vorher keine Angst hatte, bedeuten würde, dass ich sie auch jetzt nicht haben dürfte. Ich wusste noch nicht, dass Angst nicht kontinuierlich verläuft, sondern sich proportional zu unseren zurückliegenden Erfahrungen entwickelt. Ich bin in Sanaa aufgewachsen, einer märchenhaft schönen Stadt mit jahrhundertealten Gebäuden, schlichten Menschen, inmitten einer rauen Landschaft. Sanaa ist umgeben von hohen Bergen. Für uns Jemeniten gehörte es zum Alltag, auf Berge zu steigen. Früher gingen wir in die Berge und machten Picknick, und wir bauten unsere Häuser, Schulen und Krankenhäuser an den Fuß dieser Berge. Vor ein paar Wochen hatte ich Gelegenheit, die oberbayerischen Berge kennenzulernen und dort ein paar Tage Ferien zu machen. Das sind auch Berge von großer Schönheit. Ich wollte meine Angst überwinden, die Stimme in meinem Kopf herausfordern, die den Satz "Das Volk ist größer als die Angst" nicht glauben mag. Ich wollte neue, gute Erinnerungen für mich schaffen, die sich an Berge knüpfen. In den Bergen um Sanaa wurden große Waffenlager eingerichtet. Als die Saudis den Krieg begannen , bombardierten sie die Berge, um die Waffen zu zerstören, und das war das Ende der Beziehungen der Menschen zu den Bergen. Die Häuser und Schulen und Krankenhäuser in ihrer Nähe wurden evakuiert, man hörte auf, auf Berge zu klettern oder auch nur mit dem Auto dorthin zu fahren. Wir alle empfanden die Berge als einen Fluch. Als eine Falle, aus der kein Entkommen war, als ein mörderisches Gefängnis. Angst ist ein schlechter Ratgeber In Bayern zu sein, alleine in den Bergen zu wandern, mit den bayerischen Menschen zu sprechen und meine Erinnerungen an Berge zu rekonstruieren, ließ mich denken, dass wir Jemeniten mit den Bayern viel gemeinsam haben, wie ja überhaupt die Menschen überall gleich sind. Das Leben der Bayern erinnerte mich an das einfache, ruhige und sorgenlose Leben, das die Jemeniten auch einmal hatten. Ihre Liebe und Hingabe an die Berge und die Natur, ihr Selbstvertrauen, während sie wandern und klettern, wie sie auf ihren Wegen auch Fremde grüßen. Die Menschen sind überall gleich, aber die Umstände, in denen sie leben, formen unterschiedliche Realitäten. Den Mut wählen Als ich vom Wendelsteingipfel, einem steilen Felsen, hinunterstieg, hatte ich so große Angst, dass ich einen fremden Mann, der mir entgegen kam und mir den Eindruck machte, als wisse er Bescheid, fragte, ob denn Angst normal sei. Er war klug genug, um mir zu sagen, dass ein bisschen Angst durchaus normal sei. Aber eben nicht zu viel davon. Ich solle trotz der Angst einfach weitergehen. Unwillkürlich dachte ich an all die Geschichten in den Medien, die das Volk dazu bringen, sich immerzu zu fürchten, anstatt einfach weiterzugehen, weil Angst sich gut verkauft. Ich dachte an die politischen Parteien, die Angst als ihr erstes und oft einziges Mittel benutzen, um die Aufmerksamkeit des Volkes zu binden. Wenn Du die Menschen als Wähler oder als Konsumenten gewinnen willst, musst Du ihnen Angst einjagen. Greif nach ihren Herzen, lass die Angst von der Leine, damit sie ihr Urteil überwältigt, und dann kannst Du sie steuern und herumkommandieren. Es ist eben kompliziert mit der Angst. Wenn sie da ist, dann sollten wir sie auch nicht leugnen. Manchmal ist sie nicht nur normal, sondern eine Notwendigkeit. Aber sie ist trotzdem ein schlechter Ratgeber. Wir sollten sie nicht dabei mitreden lassen, welchen Politikern wir folgen, von welcher Regierung wir uns regieren lassen, wie wir uns zu Fragen der Einwanderung oder anderen wichtigen Fragen der Zeit stellen und sie sollte nicht als Rechtfertigung für die Brutalitäten des Krieges dienen. Am Ende meines Ausflugs nach Bayern war ich so weit, erkennen zu können, dass der Satz "Wir, das Volk, sind größer als die Angst" doch wahr ist. Denn es liegt an uns, wie wir mit ihr umgehen, wir können wählen, ob wir uns von ihr beherrschen lassen oder uns für den Mut entscheiden. Den Mut, den es braucht, um die Berge zu erkunden und weiterzugehen, mehr aber noch, um die Menschheit zu erkunden, mit all der Vielfalt und all den Herausforderungen, die sie enthält. Altaf Merzah, geboren 1997, wuchs im Jemen auf, kam nach dem Abitur mit einem Stipendium in die Türkei und hat 2017/2018 am Bard College Berlin ein Einführungsstudium gemacht. Ab Oktober wird sie Ingenieurwissenschaften studieren.
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