Fünf vor 8:00: Mehr Sanktionen werden Russlands Außenpolitik nicht ändern - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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FÜNF VOR 8:00
22.08.2018
 
 
 
   
 
Mehr Sanktionen werden Russlands Außenpolitik nicht ändern
 
Mit dem Verhältnis von Deutschland und Russland steht es nicht zum Besten. Wenn wir das ändern wollen, müssen wir uns vor drei Illusionen und drei Obsessionen hüten.
VON THEO SOMMER
 
   
 
 
   
 
   

Im Wellental der Geschichte haben die Beziehungen zwischen Deutschland und Russland manches Auf und Ab erlebt. Es hat sehr gute Zeiten gegeben und sehr schlechte. Bald waren die Länder enge Verbündete, etwa gegen Napoleon, bald waren sie erbitterte Feinde, so im Ersten und im Zweiten Weltkrieg. Nach dem Ende des Kalten Krieges schienen sie zunächst ein Herz und eine Seele. Michail Gorbatschow ließ sich auf die Wiedervereinigung ein, obwohl er hätte Nein sagen können. Deutschland wurde zum wichtigsten Handels- und Wirtschaftspartner Russlands, eine Modernisierungspartnerschaft bahnte sich an. Doch seit eineinhalb Jahrzehnten haben sich Deutschland und Russland zusehends wieder auseinandergelebt.
 
Das begann schon weit vor der Annexion der Krim und dem Krieg zwischen Kiew und den russischen Separatisten im Donbass. Im Bundestag hatte Wladimir Putin noch 2001 verkündet, Russland habe Europa gewählt, doch nur sechs Jahre später klang er auf der Münchner Sicherheitskonferenz ganz anders. Zum einen mochte er sich bedrängt, sogar eingekreist fühlen vom Vordringen der Nato bis an Russlands Haustür; selbst der Ukraine und Georgien wurde ja die Mitgliedschaft in Aussicht gestellt. Zum anderen jedoch kehrte er sich von Europa ab, das er mittlerweile für Amerikas Speerspitze in der Alten Welt hielt. Außerdem hatte er sich unter dem Einfluss des politphilosophischen Rechtsauslegers Alexander Dugin vom dekadenten "Gayropa" abgewendet und hingewendet zu den herkömmlichen Werten der Orthodoxie, zum Neo-Panslawismus und zu einem Eurasianismus, in dem Russland nicht mehr der Osten des Westens ist, sondern nun im Zentrum von Groß-Eurasien der Westen des Ostens.
 
Die Ukraine-Krise wurde dann vollends zum Wende- und Bruchpunkt, auch in den deutsch-russischen Beziehungen. Auf die versöhnliche Phase des Neubeginns folgte erst Abkühlung, dann Entfremdung. Unter dem Einfluss einer ständig sich verschärfenden, sanktionswütigen amerikanischen Russlandpolitik droht nun eine neue Frostperiode. Meiner Ansicht nach liegt es jedoch im dringlichen Interesse Deutschlands, den Absturz in eine lang anhaltende Eiszeit zu verhindern. Deswegen ist es richtig, dass die Bundeskanzlerin den Draht nach Moskau nicht abreißen lässt und immer wieder das Gespräch sucht. Was Russland angeht, muss Deutschland sich aus dem Schlepptau Washingtons lösen.

Die amerikanische Russlandpolitik entbehrt jeglicher Rationalität. Sie wird primär vom US-Kongress bestimmt, nicht vom Weißen Haus. Die Demokraten sind gegen Putin, weil sie seinen Machenschaften anlasten, dass Hillary Clinton die Wahl verlor, was weder bewiesen ist noch beweisbar. Die Republikaner wollen mit ihrer antirussischen Scharfmacherei vor allem Trump treffen. Der aber ist intellektuell und wegen seiner bisher nicht aufgeklärten Verwicklung in fragwürdige russische Geschäfts- und Wahlkampfhilfe nicht in der Lage, zu einem normalen, realpolitischen Umgang mit Moskau. Die neuen Sanktionen (wegen der Giftanschläge auf die Skripals) und die darüber hinaus im Kongress vorbereiteten weiteren Sanktionsvorhaben (die Moskau veranlassen sollen, sein weltpolitisches Verhalten zu verändern) schmeicheln der amerikanischen Selbstgerechtigkeit. Zu einem überzeugenden außenpolitischen Konzept, einer außenpolitischen Strategie fügen sie sich nicht.
 
In unserer Russlandpolitik sollten wir uns – wie überhaupt in unserer Außenpolitik – sowohl vor Illusionen als auch vor Obsessionen hüten.
 
Illusion Nummer eins: Das harte Vorgehen mit immer schärferen Sanktionen könne einen Kurswechsel der russischen Außenpolitik erreichen. Sie könnten leicht in einen totalen Wirtschaftskrieg ausarten. Dies kann weder im deutschen noch im europäischen Interesse liegen. Außerdem würden sich die Russen erst recht um Putin scharen. "Das russische Volk wird große Opfer auf sich nehmen, um sich in einer Konfrontation mit dem Westen zu behaupten", sagt nicht nur der amerikanische Historiker Michael Kimmage.
 
Illusion Nummer zwei: Verstärkter Druck von außen werde die Wandlung Russlands in eine liberale Demokratie und soziale Marktwirtschaft befördern. Es wird indes noch lange bei der autoritären Herrschaftsstruktur und dem oligarchischen Kapitalismus bleiben, der sich in den chaotischen Jelzin-Jahren herausgebildet und unter Putin verfestigt hat.

Illusion Nummer drei: Es lasse sich eine tragfähige und friedenssichernde Sicherheitsarchitektur in Europa gegen Russland errichten. Sie lässt sich nur mit Russland gestalten – durch die Aufrechterhaltung etwa des INF-Abkommens, das die atomaren Mittelstreckenraketen aus Europa verbannte; durch das Streben nach weiteren Rüstungskontrollabmachungen im Cyberraum; und vor allem durch ernsthafte Bemühungen, dem Minsker Abkommen über die Ukraine selbst gegen Kiewer Bockigkeit auch im Donbass zu voller Wirksamkeit zu verhelfen und die "eingefrorenen Konflikte" in Transnistrien, in Abchasien und Ossetien in friedlicher Vereisung zu halten, bis ihre Überwindung möglich wird.
 
Drei gefährliche Obsessionen
 
Aber auch vor drei Obsessionen sollten wir uns klüglich hüten.
 
Obsession Nummer eins: Dass die Bedrohung des Westens der Bedrohung entspreche, der wir uns während des Kalten Krieges entgegensahen. Damals standen fast eine halbe Million Mann der atomar bewaffneten Roten Armee in Ostdeutschland; dazu stehen die in den Zapad-Manövern zusammengezogenen 40.000 oder 60.000 Mann östlich der Nato-Grenzen in keinem Vergleich. Sicher könnten sie mit Verstärkung aus dem Inneren in wenigen Tagen den 65 Kilometer langen Suwalki-Korridor einnehmen, der Polen mit Litauen verbindet und dessen Einnahme die baltischen Republiken vom Rest der Nato abschneiden würde – aber nur wenn der Kreml einen selbstzerstörenden Atomkrieg riskieren wollte. Die russischen Streitkräfte stecken in einer vieles durcheinanderwirbelnden Reform. Und überhaupt ist das heutige Russland eine eher bescheidene Militärmacht. Hier die Zahlen der Verteidigungsbudgets im Jahre 2017 nach den Angaben des International Institute for Strategic Studies: Nato: 860,4 Milliarden Dollar, USA: 602,8 Milliarden; NATO-Europa: 239,1 Milliarden; China: 151 Milliarden. Russland: offizieller Etat 47,6 Milliarden Dollar, Gesamtwehrausgaben: 63,9 Milliarden. Angesichts dieser Zahlen können wir uns das große Zittern sparen.
 
Obsession Nummer zwei: Dass Russland die liberale Weltordnung untergrabe. Gewiss: Es lehnt diese Ordnung ab, die es als amerikanische Hegemonialherrschaft interpretiert. Es führt einen "hybriden Krieg", das heißt, einen Krieg mit nichtmilitärischen Mitteln: Desinformation, Hacking, Spionage, Einmischung in unsere inneren Angelegenheiten, zumal in Wahlkämpfe. Doch dazu muss man zweierlei sagen.
 
Zum einen: Wer tut es nicht? Donald Trump (aber auch sein Botschafter in Berlin) tut es mit seiner unsäglichen Twitterei; sein Weihrauchschwenker Stephen Bannon will eine Stiftung gründen, deren Zweck es ist, Europas rechte Populisten zu einigen. Und nicht nur die Russen hacken, hören ab und spionieren (NSA!). Viele Staaten empfinden auch die Aktivitäten unserer Parteistiftungen oder die Sendungen der Deutschen Welle als lästige Einmischung.
 
Zum anderen: Dass die russischen Einmischungen wirklich etwas bewirkt haben, ist mehr als zweifelhaft. Es werden ihnen Trumps Wahlsieg, das Brexit-Votum, der Aufstieg der AfD zugeschrieben, aber sie hatten alle ganz andere, hausgemachte Ursachen. Die Anfälligkeit unserer Demokratien für die autoritäre Versuchung ist nicht das Werk der Russen; sie ist das Produkt demokratischer Schwäche. Im Übrigen bin ich der Ansicht, dass keiner die liberale Weltordnung schlimmer, rücksichtsloser und nachhaltiger untergräbt als Donald Trump. Den Kreml braucht es dazu nicht.
 
Obsession Nummer drei: Dass Putin entschlossen auf territoriale Expansion aus sei. Er hat die Krim geschluckt, als sich die Gelegenheit dazu bot. Wie die überwältigende Mehrheit seines Volkes sieht er in der Halbinsel, die Chruschtschow 1954 an die Ukraine verschenkte, rechtmäßig russisches Gebiet, für das die Russen im 19. und 20. Jahrhundert viel Blut vergossen haben. Auch wollte er vor allem Russlands Marinestützpunkt Sewastopol gegen ukrainische Anschläge absichern. Historisch war sein Zugriff verständlich, in der Praxis lief er auf einen Völkerrechtsbruch hinaus. Indessen war es immer eine haltlose Spekulation, dass die Krim-Annexion der Auftakt zu einem revisionistisch-revanchistischen Feldzug gegen die baltischen Staaten und Polen gewesen sei.
 
Heute ist klarer als seit Langem: Putin erstrebt nicht Expansion, er sucht Sicherheit (und sei es auch vor eingebildeten Bedrohungen). Vor allem aber braucht er in seiner wohl letzten Amtszeit Partner für die bislang versäumte Modernisierung Russlands. Er steht vor gewaltigen innenpolitischen Problemen. Nicht nur die Rentner begehren auf, die Menschen verlangen Besserung, Aussicht auf wirtschaftlichen und sozialen Fortschritt. Um sein Volk in eine lichtere Zukunft zu führen, braucht Putin Kapital und Technologie. Seine Hoffnung, China werde beides liefern, hat sich mittlerweile als trügerisch erwiesen. Damit wächst die Chance, dass er aufs Neue die Zusammenarbeit mit Deutschland und der EU sucht und daher in einer Reihe von Streitfragen Entgegenkommen zeigt. Dies auszuloten, ist der Sinn unverdrossen fortgesetzter Gespräche.
 
Wobei wir von einer weiteren Illusion ablassen sollten: der nämlich, dass selbst ein lupenrein demokratisches Russland die Krim je wieder aufgeben würde. Wir können ihre Übernahme/Annexion/Heimholung ins russische Reich weiterhin als Völkerrechtsbruch brandmarken, aber wir sollten uns dadurch so wenig von selbstbewusster Diplomatie abhalten lassen wie im Kalten Krieg, als die Sowjets halb Europa, darunter auch halb Deutschland unterdrückt hielten.

 


 
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.