Als einen roten Hering bezeichnet man im englischen Sprachgebrauch einen Sachverhalt, der auf eine falsche Fährte führt. Die Redewendung geht wahrscheinlich darauf zurück, dass entflohene Strafgefangene stinkende rote Heringe auslegten, um Spürhunde in die Irre zu führen. Ein Hering färbt sich rot, wenn geräuchert wird, um ihn haltbar zu machen. Dabei entwickelt er einen starken Geruch.
Solch ein riesiger roter Hering ist die Warnung vor den vermeintlichen Milliardenrisiken in den Target-Salden der Notenbanken. Hier sind die drei größten Mythen über das Zahlungsverkehrssystem Target.
1. Die Bundesbank gewährt den Ländern Südeuropas einen Überziehungskredit
Das wichtigste Argument der Kritiker: Über das Target-System besorgen sich die Notenbanken der südeuropäischen Krisenländer kostbare Euros und kaufen damit deutsche Autos, Maschinen und Arzneimittel, die sie sich eigentlich nicht leisten können. Und weil die Kredite angesichts der hohen Schuldenquoten niemals zurückgezahlt werden können, arbeiten die Deutschen praktisch umsonst.
Das ist ein schönes Argument, es passt nur nicht zu den Fakten. Ein Beispiel: Die italienische Notenbank hat Target-Verbindlichkeiten in Höhe von 480 Milliarden Euro. Aber Italien braucht überhaupt keinen Kredit aus dem Ausland. Im Gegenteil: Das Land hat einen Überschuss in der Leistungsbilanz – es spart also mehr, als es ausgibt.
Wie das sein kann? Ganz einfach: Über das Target-System wird Zahlungsverkehr unter den Notenbanken abgewickelt. Wenn in ein Land mehr Notenbankgeld hinein- als von dort hinausfließt, dann ist grob gesprochen der Target-Saldo dieses Landes negativ. Wenn das Land ein Nettoempfänger von Notenbankgeld ist, ist er positiv.
Es ist nun denkbar, dass mit dem zusätzlichen Notenbankgeld tatsächlich Importe aus dem Ausland finanziert werden. Dazu kann es kommen, wenn ausländische private Banken nicht mehr bereit sind, den Banken in dem Krisenland Geld zu leihen, und die Zentralbank gewissermaßen einspringt. Ein Minus in der Target-Bilanz kann aber auch ganz andere Ursachen haben. Wenn zum Beispiel die italienische Notenbank eine Staatsanleihe von einer amerikanischen Bank kauft, die bei der Bundesbank ein Konto hat, dann fließt Zentralbankgeld von Italien nach Deutschland und die Target-Salden passen sich an.
Worauf es ankommt: Der Target-Saldo kann ein Indiz dafür sein, dass ein Land über seinen Verhältnissen lebt, er muss es aber nicht. Die Ausweitung der deutschen Target-Forderungen in den vergangenen Monaten jedenfalls haben mehr mit den Anleihekäufen der europäischen Zentralbanken zu tun als mit sparunwilligen Südeuropäern.
2. Deutschland bürgt mit fast 1.000 Milliarden Euro
Die Target-Forderungen der Bundesbank belaufen sich derzeit tatsächlich auf 913 Milliarden Euro. Diese Forderungen hat die Bundesbank gegenüber der Europäischen Zentralbank (EZB), weil das System so aufgebaut ist, dass die nationalen Notenbankern Geschäftspartner der EZB sind. Man könnte daraus also den Schluss ziehen: Wenn der Euro zerbricht oder eines oder mehrere Länder die Währungsunion verlassen, bleibt Deutschland auf fast einer Billion Euro sitzen. Dieser Eindruck wird in der Debatte oft erweckt, weshalb er sich so gut für den Stammtisch eignet.
Das nennt man Marktwirtschaft
Die Target-Warner lassen aber gerne unter den Tisch fallen, dass auch die Europäische Zentralbank Forderungen gegenüber Deutschland hat, zum Beispiel weil in Deutschland sehr viel Bargeld verwendet wird, das von der EZB herausgegeben wird. Unter dem Strich bleibt laut Bundesbank für Deutschland ein Risiko von 530 Milliarden Euro. Das ist viel Geld, aber nur etwas mehr als halb so viel wie oft behauptet wird.
Hinzu kommt: Die deutschen Target-Forderungen sind – wenn man vom Totalzusammenbruch der Währungsunion einmal absieht, der ganz andere Probleme mit sich brächte – ohnehin nicht die relevante Größe. Wenn zum Beispiel Italien aus dem Euro ausscheidet und seine Target-Verbindlichkeiten nicht regelt, dann würden eventuell anfallende Verluste auf die verbleibenden Länder gemäß ihrem Anteil am Gesamtkapital der EZB verteilt. Im Fall Deutschlands wäre das knapp ein Drittel. Ob die deutschen Forderungen sich auf 900 Milliarden Euro oder neun Euro belaufen, ist dabei irrelevant.
Man kann es auch so formulieren: Entscheidend für das Ausfallrisiko der Bundesbank ist, unter welchen Umständen die EZB Geld in den Markt bringt. In der Regel versorgt eine Notenbank die Wirtschaft mit Geld, indem sie den Banken Geld leiht und dafür Sicherheiten einbehält. Es kommt also auf die Qualität dieser Sicherheiten bei der Geldleihe an. Wie das einmal an die Banken verliehene Geld über das Target-System innerhalb der Währungsunion verteilt wird, ist für die Risikofrage zweitrangig.
3. Mit dem Target-Geld kaufen Ausländer Deutschland auf
Das ist die neueste Wendung in der Target-Debatte und das Argument geht ungefähr so: Wenn die italienische Notenbank einer amerikanischen Bank mit Konto in Frankfurt eine Anleihe abkauft, dann kann die amerikanische Bank dieses Geld natürlich ausgeben und damit in Deutschland so etwas wie Immobilien oder Aktien kaufen. Hans-Werner Sinn beispielsweise, der Ex-Chef des Instituts für Wirtschaftsforschung (Ifo), schreibt, es werde "alles gekauft, was nicht niet- und nagelfest ist", und erweckt so den Eindruck, hier gehe etwas nicht mit rechten Dingen zu.
Tatsache ist: Wenn die amerikanische Bank eine deutsche Aktie kauft, dann bezahlt sie nicht mit Falschgeld, sondern mit harten Euros. Über welche Umwege diese Euros zu der betroffenen Bank gelangt sind, ist aus deutscher Sicht irrelevant. Es ist ja niemand gezwungen, seine Aktie oder seine Immobilie zu verkaufen. Es wird zu einem Verkauf kommen, wenn der Besitzer der Aktie oder der Immobilie glaubt, dass der Preis, den die Bank bezahlt, ein guter ist. Das nennt man Marktwirtschaft.
Fazit: Man kann lange darüber streiten, ob die Geldpolitik der EZB angemessen ist oder nicht. Das hat aber mit den Target-Salden nur am Rande etwas zu tun. Es wäre für alle Beteiligten von Vorteil, wenn sich der zweifellos gewaltige wissenschaftliche Sachverstand in diesem Land wieder mit wichtigeren Dingen beschäftigen würde.