die Nachricht hat gestern sicherlich viele überrascht – nicht zuletzt die Hamburger CDU-Stammwähler.
Aygül Özkan soll die Christdemokraten bei der nächsten Bürgerschaftswahl 2020 als Spitzenkandidatin anführen. Eine Frau. Mit Migrationshintergrund. Bei der CDU. Noch vor wenigen Jahren hätte man eine solche Nominierung blind den Grünen zuordnen können. Doch nun scheint es, als würde die CDU sogar noch die SPD an gesellschaftlicher Öffnung überholen.
Die Nominierung ist mutig. Denn die CDU setzt darauf, dass sich die Hamburger eine Erste Bürgermeisterin Özkan vorstellen können. Damit wäre sie – das muss jetzt leider sein – Hamburgs erste Erste Bürgermeisterin.
Sie hätten sich schon vor längerer Zeit auf Özkan verständigt, sagten Landesverbandschef
Roland Heintze und Fraktionsvorsitzender
André Trepoll gestern Nachmittag. »Für uns beide war ziemlich schnell nach der Bürgerschaftswahl 2015 klar, dass wir jemanden brauchen, der Hamburg in seiner Vielseitigkeit und Offenheit gut repräsentieren kann, der in der Wirtschaft verwurzelt ist und die notwendige Regierungsverantwortung hat«, fügte Heintze hinzu.
Die 1971 in Hamburg geborene Anwältin ist die Tochter eines türkischen Gastarbeiters. Nach dem Abitur studierte sie Jura und arbeitete unter anderem bei der Deutschen Telekom sowie bei T-Mobile. Im Jahr 2004 trat sie der CDU bei und zog 2008 in die Hamburgische Bürgerschaft ein. Im selben Jahr wurde sie zur stellvertretenden Vorsitzenden des CDU-Landesverbands gewählt.
Im Jahr 2010 holte sie der damalige niedersächsische Ministerpräsident
Christian Wulff als Ministerin für Soziales, Frauen, Familie, Gesundheit und Integration in seine Regierung, wo sie bis zur Wahlniederlage der CDU im Jahr 2013 blieb. Seit 2014 ist sie Geschäftsführerin der DB Kredit Service GmbH in Berlin, einer Tochtergesellschaft der Deutschen Bank.
In Niedersachsen wurde ihre Berufung ins Ministerinnenamt als Symbol dafür gesehen, dass Bürger mit türkischem Hintergrund in hohe Ämter aufsteigen können. In Erinnerung blieb sie vor allem, weil sie sich öffentlich gegen Kruzifixe (und Kopftücher) an den Schulen aussprach, was bei den bayerischen Parteifreunden nicht gut ankam. Dieser Schritt, schrieb ZEIT-Redakteurin
Özlem Topçu damals, »war vielleicht politisch ungeschickt – und dennoch steht er dafür, dass Aygül Özkan nichts anderes getan hat, als zu sagen, was sie denkt. Er hat gezeigt, dass sie eine andere Erziehung und Denkweise als die meisten ihrer Parteifreunde mitbringt, eine türkisch-laizistische nämlich.«
Aygül Özkans Nominierung birgt also die Gefahr, den konservativeren Teil der CDU-Wähler von der Partei zu entfremden und vielleicht sogar in die Arme der AfD zu treiben, aber auch die Chance, der Partei völlig neue Wählerschichten zu erschließen. Nämlich all jene, die gestern Nachmittag auch zweimal nachfragen mussten: eine Frau? Mit Migrationshintergrund? Bei der CDU? Nach dem schlechten Abschneiden der Hamburger CDU im Jahr 2015 mit 15,9 Prozent könnte Özkan zum Signal für eine Modernisierung des Landesverbands werden.
Die offizielle Nominierung, die eigentlich erst im Herbst erfolgen sollte, steht noch aus. Özkan unterrichtete Heintze und Trepoll am vergangenen Mittwoch, dass sie schwer erkrankt sei. Vorerst sieht die CDU jedoch keinen Grund, ihre Pläne zu ändern. Bis zur Bürgerschaftswahl seien es ohnehin noch 18 Monate, sagte Trepoll gestern.
»Radikalenerlass«: Hamburg stellt sich der Vergangenheit Früher hatten die Deutschen keine Angst vor bärtigen Salafisten, sondern vor Links- (und Rechts-)Extremisten. Um vor allem
»rote Maulwürfe« aus dem öffentlichen Dienst fernzuhalten, erließen die Ministerpräsidenten und Landesminister 1972 den
Radikalenerlass. Er besagte, dass etwa Lehrer, Postbeamte oder Eisenbahner keinen Job oder aber die Kündigung bekamen, wenn bei ihnen »verfassungsfeindliche Aktivitäten« festgestellt wurden. Ausreichend dafür war oft schon die
Teilnahme an der »falschen« Demo oder die Mitgliedschaft in einer zu linken Partei. So kam es bundesweit zu ungefähr 11.000 Berufsverbotsverfahren, 1250 Ablehnungen von Bewerbungen und 265 Entlassungen. Rund hundert Hamburger waren damals betroffen, schätzt
Fredrik Dehnerdt von der GEW Hamburg, er vermutet aber eine
hohe Dunkelziffer. Schon lange fordert die Gewerkschaft, dieses Kapitel endlich aufzuarbeiten und für Hamburg konkrete Zahlen zu erheben. Nun haben SPD und Grüne einen entsprechenden Antrag in die Bürgerschaft eingebracht. »Wir wollen wissenschaftlich untersuchen, warum damals einer Menge Leute Unrecht geschehen ist«, erklärt
Urs Tabbert (SPD). Nur so könne man
aus der Geschichte lernen. Hamburg wäre nach Niedersachsen erst das zweite Bundesland, das sich dieser Aufgabe stellt.
Christiane Schneider von den Linken geht der Ansatz der Regierungsparteien nicht weit genug. Ihre Partei hat einen eigenen Antrag nachgeschoben und fordert neben der Aufarbeitung eine
offizielle Entschuldigung sowie, in Härtefällen, eine finanzielle Entschädigung. »Das Mindeste ist, dass wir heute deutlich sagen: Der Radikalenerlass war ein Fehler, und das tut uns leid!«