An der Ostseeküste in Lubin bei Greifswald wird gegraben: Die Verlegung der Stahlröhren für die Pipeline Nord Stream 2 hat begonnen. Die neue Leitung, die Parallel zu Nord Stream 1 verläuft, wird deren Transportkapazität von 55 Milliarden Kubikmetern im Jahr verdoppeln. Schon Ende 2019 soll russisches Erdgas durch sie fließen.
Doch der Streit über das Vorhaben will nicht aufhören. Selbst auf ihrer Reise in die Kaukasus-Staaten Georgien, Armenien und Aserbeidschan musste die Bundeskanzlerin vergangene Woche das Projekt wieder verteidigen.
Donald Trump lehnt es ab; er sagt, Deutschland mache sich damit zum "Gefangenen" Russlands: "Furchtbar, was Deutschland da macht." Die Ukrainer, die Polen, die Balten sind dagegen. Sie sehen – nicht frei von historisch verständlichen antirussischen Gefühlen – in Nord Stream 2 kein normales wirtschaftliches Unterfangen, sondern ein bedrohliches Manöver Putins, Europa in immer tiefere Abhängigkeit von Russland zu stoßen.
"Nord Stream 2 gestattet Moskau, das Pipelinesystem der Ukraine zu umgehen, die damit die Transitgebühren verliert und stärker russischem Druck ausgesetzt wird in ihrem Kampf gegen die von Russland unterstützten Separatisten in der Ostukraine", schreibt Guy Chazan in der Financial Times. "Berlin sollte nicht zulassen, auf diese Weise von Moskau benutzt zu werden", mahnt der Leitartikler des Blattes. Und der Londoner Sicherheitspolitiker Frank Umbach darf in einem Arbeitspapier der Bundesakademie für Sicherheitspolitik – einer Einrichtung des Bundesverteidigungsministeriums – gegen das Projekt der eigenen Regierung wettern.
Fakten statt Vorurteile
Ich sage wieder einmal: Machen wir halblang. Fakten sind stärker als Vorurteile. Hier zehn solcher Fakten:
1. Nord Stream ist kein ausschließlich deutsches Projekt. Die Kosten von knapp zehn Milliarden Euro übernimmt zur Hälfte Gazprom, die andere Hälfte investieren Wintershall und Uniper (Deutschland), OMV (Österreich), Royal Dutch Shell (Niederlande und Großbritannien) und Engie (Frankreich). Es hat daher wenig Sinn, dass sich der amerikanische Präsident auf Deutschland einschießt, zumal die EU-Kommission sich nach sieben Jahren Streit eben mit Gazprom über dessen Geschäftspolitik geeinigt hat.
2. Es gibt keine einseitige Abhängigkeit. Nur 40 Prozent von Deutschlands Gas kommen aus Pipelines von Russland – 21 Prozent erhalten wir aus Norwegen, 29 Prozent aus den Niederlanden, sieben Prozent fördern wir im Land. Vom Erdöl lieferten die Russen 36,9 Prozent, 11,4 Prozent kommt aus Norwegen, aus Kasachstan erhalten wir 8,9 Prozent. Totale Abhängigkeit? Davon kann da keine Rede sein. Die Gasimporte der gesamten EU aus Russland – 194 Milliarden Kubikmeter im Jahr 2017 – belaufen sich nur noch auf 37 Prozent; 1990 betrugen sie noch 75 Prozent. Der russische Hebel ist also längst kleiner geworden. Nord Stream 2 wird ihn nicht vergrößern.
3. Deutschland, aber auch die EU, wird in Zukunft weit mehr Erdgas brauchen als bisher. Die Produktion in Norwegen und den Niederlanden ist rückläufig; auch England wird einfuhrabhängiger. In naher Zukunft müssen 120 bis 140 Milliarden Kubikmeter Erdgas aus anderen Quellen beschafft werden. Hinzukommt, dass der Ausstieg aus Atomkraft (bis 2022) und aus Steinkohle und Braunkohle (bis 2040?) Versorgungslücken reißt, die erneuerbare Energien noch nicht auffüllen können. Zur Grundversorgung brauchen wir Gas. Mehr Gas.
4. Russland ist seit Jahrzehnten ein zuverlässiger Lieferant. Selbst auf dem Höhepunkt des Kalten Krieges war Verlass auf seine Liefertreue. Moskau blieb verlässlich, weil es – damals wie heute – die Öl- und Gaseinnahmen brauchte. Die Lieferstörungen 2006 und 2009 lagen mehr an der ukrainischen Politik als an Putins Bösartigkeit.
5. Wenn Kritiker wie die Financial Times uns vorwerfen, Nord Stream 2 sei "ein Akt des Verrats und geopolitischer Torheit", der "Polen und die Ukraine und den Rest Europas" der Gnade Moskaus ausliefere, so ist das eine durch nichts zu beweisende Behauptung. Der gesteigerte Bezug von russischem Erdgas bringt weder die Bundesrepublik noch Europa in größere Abhängigkeit. Auch Nord Stream 1, vor sieben Jahren von Angela Merkel und Dmitri Medwedjew eröffnet, hat Berlin keineswegs dazu gebracht, vor dem Kreml zu kuschen.
Die Energiesituation der EU hat sich in jüngster Zeit beträchtlich verbessert. Neue Gasleitungen verbinden heute die westlichen Netze mit Polen, Ungarn, der Slowakei und der Ukraine, Gas kann nun im reverse flow von Westeuropa nach Osten geschickt werden. Es gibt viel mehr Erdgaslagerstätten als früher, inzwischen außerdem 30 Terminals für Flüssiggas (LNG). Auch darf Gas innerhalb der EU seit einiger Zeit frei überall hin weitergeleitet werden. Bei Versorgungsengpässen hätte Europa vielerlei neue Möglichkeiten, seinen Bedarf zu sichern.
Das ukrainische Problem ist lösbar
6. Berlin ist weiterhin auf die Diversifizierung seiner Gasbezugsquellen bedacht. Gespräche über die "Südroute", die aserbaidschanisches Gas durch die Türkei nach Westen bringen soll, waren ein Zweck von Merkels jüngster Kaukasusreise. Menschenrechtsbedenken angesichts der brutalen Diktatur von Ilham Alijew spielen dabei keine Rolle.
7. Das Problem mit der Ukraine ist lösbar. Der Gasbedarf der Ukraine wird längst aus dem Westen gedeckt. Es geht nur noch um den Preis und das Volumen des künftig noch durch die Ukraine nach Westen durchgeleiteten russischen Erdgases. Die Verträge zwischen Gazprom und der ukrainischen Naftogas laufen nächstes Jahr aus. Ohne eine Einigung ginge das Transitgeschäft mitsamt den zwei Milliarden Dollar Durchleitungsgebühren den Ukrainern ganz verloren. Moskau bietet die weitere Durchleitung von 30 Milliarden Kubikmetern im Jahr an.
Die Bedingung für den Betrieb von Nord Stream 2, sagte die Bundeskanzlerin in Tiflis, sei, dass weiterhin Gas aus Russland auch über die Ukraine geliefert werde, damit die Transiteinnahmen erhalten blieben, die Kiew daraus erlöse. Voraussetzung dafür ist freilich auch eine realistische Einstellung des ukrainischen Präsidenten noch vor den Parlamentswahlen im nächsten Jahr.
8. Donald Trump hat dem EU-Kommissionspräsidenten Juncker das Versprechen abgenommen, dass Europa in Zukunft mehr amerikanisches Flüssiggas und mehr Sojabohnen kauft. Das ist eine wachsweiche Zusage. Nicht Staaten kaufen ja Öl und Soja, sondern Privatunternehmen. Höhere Importe sind das Ergebnis von Marktprozessen, nicht von politischen Beschlüssen. Da kommt es auf den Preis an – und US-Flüssiggas ist 25 Prozent teurer als Erdgas aus Sibirien. Fachleute halten es für unwahrscheinlich, dass sich an der Preisdifferenz etwas ändert.
"Furchtbar, was Trump da macht"
9. Der Evonik-Chef Christian Kullmann hält die derzeitige Diskussion "Entweder US-Flüssiggas oder russisches Erdgas" für falsch. Er vertritt eine einleuchtende Position: "Prinzipiell können wir sowohl Flüssiggas aus Amerika als auch Gas aus Russland bekommen. Wir brauchen Wettbewerb. Deshalb bin ich ein großer Befürworter der neuen Pipeline Nord Stream 2 aus Russland, denn wir sollen entscheiden können, wo wir unser Gas kaufen. Dieser Wettbewerb bietet uns die Chance, einen Marktpreis bilden zu können."
10. Die Bundesregierung hat weder wirtschaftlichen noch politischen Anlass, sich von Donald Trumps Einwendungen gegen Nord Stream 2 von dem Projekt abbringen zu lassen.
Zum einen: Seine völlig ungerechtfertigten Sanktionsdrohungen gegen den Iran haben den Erdölpreis von 50 auf 75 Dollar pro Fass hochschnellen lassen. Da darf man schon sagen: "Furchtbar, was Trump da macht." Unsere Wirtschaft und die privaten Verbraucher werden es bald beim Tanken und beim Bezahlen ihrer Ölrechnung zu spüren bekommen. Da verbietet schon einfaches Kopfrechnen jedes Entgegenkommen.
Zum anderen: Deutschland darf sich nicht zum "Gefangenen" dieses Präsidenten machen. Unter dem launenhaften und sprunghaften Trump ist Amerika ein unzuverlässiger Partner geworden. Der unstete Frühmorgenstwitterer könnte uns mit seinem Flüssiggas leicht auf dem Trockenen sitzen lassen, wenn ihn wieder einmal seine antideutschen Anwandlungen überwältigen.
Fazit: Nicht irre machen lassen!