10 nach 8: Didem Ozan über die Turmwächterin von Münster

 
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10.08.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Die Türmerin von Münster
 
Seit mehr als 600 Jahren wird abends vom Glockenturm der St.-Lamberti-Kirche das Horn geblasen. Die erste Frau dort oben ist Martje Saljé. Ein Besuch in steinernen Höhen
VON DIDEM OZAN

Martje Saljé, die Türmerin der Lambertikirche in Münster © Friso Gentsch/dpa
 
Martje Saljé, die Türmerin der Lambertikirche in Münster © Friso Gentsch/dpa
 

Die Hüterin im Blauen Turm im baden-württembergischen Bad Wimpfen, die Türmerfamilie im sächsischen Annaberg-Buchholz, der Bewacher des Hamburger Michel und der Turmbläser von Krakau: Sie alle gehören zu den wenigen Vertretern eines aussterbenden Berufes. Der mittelalterliche Türmerdienst bestand darin, vom höchsten Punkt der Stadt aus vor Gefahren zu warnen. Das konnten herannahende Truppen und Banden sein, aber auch Brände, die sich wegen der Enge der Städte und der üblichen Holzbauweise sehr schnell ausbreiteten. Diese Funktionen sind mittlerweile entbehrlich geworden, doch die Tradition wird von den Städten trotzdem gepflegt, in einem Spannungsfeld zwischen Brauchtum, Nostalgie und Tourismusmarketing, das ich mir in Münster näher anschauen will.

"Zum Sehen geboren, zum Schauen bestellt, dem Turme geschworen, gefällt mir die Welt", so beschreibt Martje Saljé mit Goethe blumig ihre Tätigkeit. Die Türmerin von Münster arbeitet seit vier Jahren hoch oben in der katholischen St.-Lamberti-Kirche. Ich begleite sie an einem Sommerabend bis unter die Kirchturmspitze, um die uralte Brandwache mitzuerleben. Seit mehr als 600 Jahren gibt es eine rituell festgezurrte Abfolge von Beobachten und Hornblasen, die nun Martje anvertraut ist. Jeden Abend, außer dienstags, bläst sie von 21 Uhr bis Mitternacht halbstündlich ein Zeitsignal, damit die Stadt weiß, dass sie sicher ist, und steht damit in der Ahnenreihe ihrer Vorgänger. An Dienstagen kann es also in Münster nicht brennen? Auch Brauchtumspflegerinnen haben ein Anrecht auf einen freien Tag. Martjes Arbeitgeber, die Münster Marketing, ein Eigenbetrieb der Stadt Münster, rechtfertigt den freien Dienstag mit Statistiken, nach denen in den vergangenen Jahrhunderten dienstags die Feind-und-Feuer-Dichte sehr gering sei. So werden die Anforderungen des modernen Arbeitsrechts historisch umkleidet.

Im Mittelalter war der Türmer an keinem einzigen Tag der Woche verzichtbar. Turmwächter fungierten als verlängertes Auge der Nachtwächter, in der Regel arbeiteten Turmwächter und Nachtwächter eng zusammen. Heute sind Münsters Nachtwächter Touristenführer, die sich freuen, wenn sie bei ihren Rundgängen auf die Türmerin verweisen können.

Meine persönliche Führung beginnt an einem kleinen Seiteneingang der Kirche. Eine steinerne Wendeltreppe führt uns in einem engen Schlauch über drei Ebenen bis in die Dienststube hoch. Die Treppe ist als Fluchtweg in dem denkmalgeschützten Turm so eng, dass Gästeführungen ansonsten kaum zugelassen werden. Nach den ersten hundert Stufen auf der zweiten Empore angekommen, sehe ich die drei Käfige, in denen in der Reformationszeit die radikalen Anführer der Wiedertäufer ausgestellt waren. Ich darf die kühlschrankgroßen Eisenkörbe berühren, in denen im Jahr 1536 Jan van Leiden und seine Kumpanen verrotteten, zur Abschreckung, nach mehrstündiger Folter und Hinrichtung. Auch das war einmal Sache des Türmers, erklärt Martje: die Reinigung der Eisenkörbe, des Gebäudes, des Prinzipalmarktes vor dem Turm, wo die Hinrichtungen stattfanden, von den Leichenteilen und Körpersäften, von den Überbleibseln der Toten.

Weil er mit Tod und Einsamkeit verbunden war, wurde der Türmer im Mittelalter als Randständiger gesehen, er war ehrlos im Sinne von "nicht von ehrbarem Stand geboren". Ehrlose hatten in den städtischen Ständegesellschaften keine Chance auf die Ausübung eines Handwerks oder eines anderen Berufs. Kinder aus Türmerfamilien wurden bis in die Frühe Neuzeit von der Aufnahme in die Zünfte ausgeschlossen. Erst Mitte des 16. Jahrhunderts erhielten sie durch Reichsgesetze die Möglichkeit, einen anderen Beruf zu erlernen.

Nach dem historischen Gruselschauer geht es weiter hoch auf die dritte Empore, fast unter die Kirchturmspitze. Da oben ist es angenehm luftig, ich blicke durch die spätgotischen Fassade auf die westfälische Stadt mit ihren mehr als 300.000 Einwohnern wie in einem Miniaturpark. Aus dieser Perspektive wirken die Menschen, als könne man sie mit dem Zeigefinger zerdrücken. Direkt vor mir der historische Wasserturm in Schachfigurgröße, der Dom wie eine Sandburg, alles hübsch umfasst von Brokkoliröschen, so sehen die Laubbäume von oben aus. Weit im Horizont blinken Windräder im Sonnenuntergang. Es ist ein erhabener Ort.

Feinde hat die Turmwächterin noch nicht gesehen

Nun betreten wir das historische Dienstzimmer. Martje loggt sich mobil ein, es gibt kein WLAN, aber LTE. Sie ruft die Feuerwehr an und meldet, dass sie zur Brandwache bereit ist. Das höchste Büro Münsters ist wohnlich eingerichtet. Es hängen Fotos an der Wand, von ihren Katzen, aber auch Bilder, die Besucher ihr geschickt haben. Wir trinken Tee an einem kleinen Tischchen. Fast könnte man vergessen, dass es hier im Winter nicht wärmer als 14 Grad wird und der Kirchturm bei Sturm auch mal schwankt. Und was ist, wenn man mal auf die Toilette muss? Muss man die 300 Stufen hinunterrennen? Nein, es gibt eine ökologische Toilette, die mit biologisch abbaubarer Katzenklumpstreu funktioniert. Arbeitsatmosphäre schafft ein Bürostuhl, der in dem mittelalterlichen Gebäude etwas deplatziert wirkt. Aber immerhin gibt es kein Büro in der Stadt mit einem besseren Ausblick.

Um kurz vor 21 Uhr legt sich Martje einen dicken Umhang an und nimmt das Kupferhorn. Im Uhrzeigersinn geht sie um den Turm herum und wartet das Läuten der Kirchenglocke ab. Sie schaut auf den Horizont. Rauch? Feinde? Nein. Sie stellt ihr Horn auf die Mauer und tutet. Das lange Signal bedeutet, dass alles in Ordnung ist. Kurze Staccato-Tonfolgen würden Alarm schlagen.

Feinde hat die Turmwächterin noch nicht gesehen, aber Brände durchaus, etwa wenn illegal Gartenabfälle im Grünen verbrannt wurden. Ihre Wache ersetzt moderne Technik nicht, aber erkennt unter Umständen Brände früher als ein Notrufsystem. Deswegen will Martje sich auch nicht nur auf eine touristische Attraktion reduziert sehen.

Es wird in drei Himmelsrichtungen getutet. Die drei steht für die Dreifaltigkeit, aber auch für die drei Tugenden Glaube, Liebe, Hoffnung. Martje hat sich mit mittelalterlicher Zahlenmagie beschäftigt. Nach dem Tuten winkt sie den Leuten, die sie gehört und erkannt haben. Es soll Kinder geben, die nur schlafen können, wenn sie ihr tiefes C hören.

Der Wachritus wird sich nun jede halbe Stunde wiederholen. Zwischendrin unterhalten wir uns. Die 37-jährige Norwegerin, die aus Bremen kommt, wirkt rundum ausgefüllt und zufrieden. Sie hat eine unbefristete halbe Stelle mit einer Sechs-Tage-Woche, auch an den Wochenenden. Ihr Vertreter springt ein, wenn sie arbeitsunfähig oder im Urlaub ist. Manchmal muss sie auf öffentliche Termine, um über ihren Beruf zu sprechen.

Und ihr obliegt die Pflege des Blogs und der gut besuchten Facebook-Seite. In wöchentlichen Social-Media-Runden stimmt sie sich mit der Münster Marketing ab, wie die Strategie, das wissens- und traditionsorientierte Profil der Universitätsstadt zu stärken, am besten umgesetzt werden kann. Martje Saljé ist das junge und frische Gesicht der Tradition des Türmeramts. "Man spürt bei ihr die Liebe zu ihrem Job und mit welchem Engagement sie diesen ausfüllt. Sie ist eine wunderbare Botschafterin der Stadtgeschichte", sagt Juliane Unkelbach von Münster Marketing. Martje sagt, Türmerin zu sein, sei für sie Beruf und Berufung: "Ich habe das schon immer geliebt, auf Berge, Mauern, auf alles Hohe zu steigen." Es fasziniere sie die Verbindung aus Historie und Geheimnis. Auch ihr Vorgänger liebte den Job und ging erst mit 70 Jahren in Rente. Als die Stadt 2014 eine präsentable Nachfolge suchte, setzte sich Martje unter 37 männlichen und neun weiblichen Bewerbern durch: Sie spielt mehrere Instrumente, hat Musik und Geschichte auf Lehramt studiert, ist stadtgeschichtlich bewandert und kann gut mit Öffentlichkeit umgehen. Jetzt ist sie die erste Frau seit mehr als 600 Jahren, die die Stadt bewachen darf.

Der Wachdienst mag heute nicht mehr nötig sein, die mediale Vermittlung des Schutzrituals erscheint wichtiger als das Ritual selbst. Trotzdem identifiziert sich die Stadt mit dem Turm und der Türmerin. In der Nachbarschaft mit den vielen Traditionsgeschäften und Handwerksbetrieben hört man die Lockrufe der Türmerin sehr gern. Und ich, die ich das Privileg genieße, als Journalistin die Türmerin begleiten zu dürfen, kann mich dem Zauber auch nicht entziehen. Nach dem Besuch bin ich völlig beseelt. Von diesem Ort so hoch oben über der Stadt, von der lauen Luft, dem Sonnenuntergang, vom altertümlichen Tuten aus dem handgearbeiteten Horn, von den alten Mauern und den Gedanken an schreckliche Dinge, die sich hier in Vorzeiten vollzogen haben. Es ist eine Weltflucht für den Moment, von einer Marketingstrategie für uns erdacht, aber doch auch sehr verbindend, denn die Türmerin, die Stadt und ich, wir sind uns begegnet und haben uns etwas erzählt.

Didem Ozan ist freie Journalistin und Autorin. Gerade schreibt sie einen Roman über die Istanbuler Gezi-Proteste. Sie lebt in Münster, wo sie sich politisch engagiert. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". 


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