Fünf vor 8:00: Stochern im Nebel - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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FÜNF VOR 8:00
13.08.2018
 
 
 
   
 
Stochern im Nebel
 
Seit Jahren bezeichnet das Bundeskriminalamt die Organisierte Kriminalität in Deutschland als enorme Bedrohung. Konkrete Zahlen aber bleiben die Ermittler schuldig.
VON MARTIN KLINGST
 
   
 
 
   
 
   

Vor Kurzem stellte das Bundeskriminalamt sein "Bundeslagebild 2017" zur Organisierten Kriminalität (OK) vor. Darin steht: "Die Gesamtanzahl der Ermittlungsverfahren gegen OK-Gruppierungen zeigt ein unverändert hohes Bedrohungspotenzial durch OK in Deutschland." 
 
Was will das BKA damit sagen? Wie groß ist die Gefahr? Genaues weiß man nicht. Die Experten des BKA bezeichnen die Organisierte Kriminalität zwar schon seit vielen Jahren als eine enorme Bedrohung, bleiben aber konkrete Zahlen und Anhaltspunkte schuldig.
 
Ein Blick in die BKA-Statistik zeigt: Vergangenes Jahr gab es in Deutschland insgesamt 572 Ermittlungsverfahren im Bereich der Organisierten Kriminalität. 274 davon waren neue Fälle. Seit 2008 ermitteln die Landeskriminalämter Jahr für Jahr in durchschnittlich 577 Verfahren: Mal waren es 606 wie 2010, mal 563 wie 2016. All die Zeit über gab es keine größeren Ausschläge nach oben oder unten.
 
Was also heißt "ein unverändert hohes Bedrohungspotenzial"? Was ist der Ausgangspunkt und die Bezugsgröße für die Feststellung "unverändert" hoch? Darüber ist nichts zu erfahren.
 
Das BKA spricht außerdem von einem "Bedrohungspotenzial". Soll das bedeuten, dass die tatsächliche Gefahr Organisierter Kriminalität gegenwärtig zwar nicht übermäßig hoch ist, aber – Vorsicht! – schnell weit höher sein könnte, weil es das Potenzial dafür gibt?
 
Mit einem derart vagen Begriff operiert das Bundeskriminalamt auch in einer Untergruppe der Organisierten Kriminalität. Neben Rockerbanden und global operierenden Netzwerken gehören in Deutschland unter anderem auch kriminelle Familienclans zu diesem Milieu. Im "Lagebericht 2017" warnt das BKA, dass sich immer mehr Mitglieder von Großfamilien im organisierten Verbrechen tummelten.
 
Es handelt sich dabei in erster Linie um Sippen mit libanesischem, türkischem, kurdischem und arabischem Hintergrund. Sie heißen unter anderem Remmo und Al-Zair, Miri und Abu-Chaker. Mal überfallen Mitglieder dieser Clans die Luxusabteilung eines Kaufhauses und rauben Schmuck und Uhren im Wert von fast einer Million Euro. Mal brechen sie ins Berliner Bode-Museum ein und stehlen eine 100 Kilo schwere Goldmünze. Mancherorts beherrschen sie Drogenhandel und illegale Wettspiele, treiben Schutzgeld von Prostituierten und Restaurantbesitzern ein. Ihre Mittel sind Erpressung, brutale Gewalt, notfalls Mord.

Viele Angehörige der Clans flohen in den Achtzigerjahren aus dem vom Bürgerkrieg heimgesuchten Libanon nach Deutschland und dominieren seit Langem vor allem in Berlin und Bremen, in Nordrhein-Westfalen und einigen Landstrichen Niedersachsens lukrative Bereiche der Organisierten Kriminalität. Von den im vergangenen Jahr durchgeführten 572 Ermittlungsverfahren im Bereich OK hatten 39 Bezüge zu diesen arabisch-türkischen Großfamilien.
 
Aber wie groß die Gefahr tatsächlich ist, lässt das BKA auch hier im Dunkeln. Konkrete Zahlen werden nicht genannt. Allerdings titelte die Bild-Zeitung vergangene Woche: "200.000 kriminelle Clan-Mitglieder in Deutschland." Das ist mehr, als die Bundeswehr an Soldaten hat.
 
Die Bild-Schlagzeile führt allerdings in die Irre. Zwar stammt die Zahl 200.000 vom Bundeskriminalamt, beruht aber auf einer Schätzung von 2015. Die Fachleute des BKA haben damals grob über den Daumen veranschlagt, wie viele Familienmitglieder die türkisch-libanesisch-kurdisch-arabischen Clans in Deutschland insgesamt haben und kamen am Ende auf diese Zahl. Das heißt aber nicht, wie auch das BKA betont, dass all diese Familienangehörigen kriminell sind. Viele leben völlig unbescholten und gehen einer rechtschaffenen Tätigkeit nach. So sprach das BKA 2015, was auch die Bild-Zeitung in ihrem Artikel erwähnt, lediglich von einem "Personenpotenzial der Clanfamilien".
 
Da also taucht es im Rahmen der Organisierten Kriminalität wieder auf, das Wort "Potenzial". Und es bedeutet lediglich: Die einschlägigen Sippen haben insgesamt 200.000 Familienangehörige; das ist – rein hypothetisch – ein riesiges Reservoir für kriminelle Gangs.
 
Es herrscht das Gesetz des Schweigens
 
Derart ungenaue Begriffe und nebulöse Bedrohungsszenarien kennzeichnen die Geschichte der Organisierten Kriminalität in Deutschland. Schon vor 25 Jahren malten das Bundeskriminalamt und das Bundesinnenministerium Schreckensbilder von Verbrecherkartellen, die sich wie Kraken in Deutschland ausbreiteten und Wirtschaft, Verwaltung und Regierung um ihre Kontrolle brächten. Konkrete Informationen blieben sie jedoch schon damals schuldig.
 
Stattdessen verliehen die Sicherheitsbehörden mit immer neuen Horrorszenarien ihrer Forderung nach mehr Personal und neuen technischen Abhörmaßnahmen Nachdruck. Polizei und Staatsanwaltschaft verlangten damals die Befugnis zum "großen Lauschangriff", zur akustischen Wohnraumüberwachung von tatverdächtigen Bandenmitgliedern und ihrer Hintermänner.
 
Der Vorstoß scheiterte zunächst an der damaligen Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (FDP), der eine solche Maßnahme zu stark in das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung eingriff. Sie wollte nicht Wegbereiterin eines Überwachungsstaats sein.
 
Im Januar 1996 trat Leutheusser-Schnarrenberger von ihrem Amt zurück, nachdem sich die FDP in einer Mitgliederbefragung mehrheitlich für die Einführung des "großen Lauschangriffs" ausgesprochen hatte. Zwei Jahre später, im Januar 1998, beschloss der Bundestag auf Drängen der Sicherheitsbehörden die akustische Wohnraumüberwachung im Rahmen eines Gesetzes zur Bekämpfung der Organisierten Kriminalität. 2004 erklärte das Bundesverfassungsgericht weite Teile dieses Gesetzes für verfassungswidrig und erzwang umfassende Korrekturen.
 
Es liegt in der Natur des organisierten Verbrechens, dass man wenig darüber weiß. Vieles findet im Verborgenen statt, die Banden schotten sich streng nach außen ab, es herrscht das Gesetz des Schweigens. Für Familienclans gilt das allemal. Doch wenn die Kenntnisse derart lückenhaft und vage sind, sollte man nicht ständig "Feuer" rufen und die Alarmglocke schlagen. Denn das schrille Läuten wird mit der Zeit nicht mehr ernst genommen, wenn nicht klar wird, wo die Gefahren lauern.
 
In seinem "Lagebild 2017" räumt das BKA selbst ein, hinsichtlich des organisierten Verbrechens der Familienclans noch weitgehend im Nebel zu stochern. Die Fachleute wurden beauftragt, bis zum nächsten Jahr bessere "Erfassungskriterien" und eine genauere Auswertung vorzulegen. Es wird Zeit.

 


 
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.