Ich möchte über Musik sprechen Die coolen Jungs spielen in der Band, die coolen Mädchen gucken zu: Warum sind Popnerds immer noch ein männliches Klischee? Und wie können Frauen mitmischen? VON THERESA SERAPHIN |
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| | Gibt's auch, aber immer noch zu wenig: Frauen legen auf, Männer gucken zu. © Alfonso Scarpa/unsplash.com |
"Männer machen Mucke. Männer kennen die Bands. Männer legen auf.
In jeder Alltagssituation liegen wunde Punkte der eigenen kulturellen, gesellschaftlichen und geschlechterbezogenen Sozialisation. Eine scheinbar unverfängliche Frage kann einen ins Stottern bringen. Eine solche Frage war für mich seit der Pubertät jene nach meinem Musikgeschmack.
Zum Beispiel bei einem Date mit meinem neuen Freund: Er zeigt mir seine liebsten Rockbands. "Was hörst du so?", möchte er wissen, und eigentlich freue ich mich über sein Interesse: "Da war doch so eine Band, die ich neulich ... Wie bin ich da drauf gekommen? Wer hat mir die gezeigt? Chesti, Jovi, Bon – haha, nein – ", überlege ich laut und gebe die sichersten Buchstaben in die YouTube-Suchleiste ein: "Chest...". "Chester Bennington – Halleluja" ist der erste Vorschlag.
Mit meiner Suche hat er wenig zu tun, aber ich kenne das Lied und es bietet mir die Möglichkeit, dem Ratespiel zu entkommen. "Oh, das ist schön!", sage ich also und klicke auf Play. Wir hören gemeinsam die sehr nasale Version dieses wirklich guten Songs. "Chester Bennington ist im Juli 2017 gestorben", sagt uns das Video und ich schäme mich ein bisschen, den Song zu unterbrechen, um zu gestehen, dass das eigentlich nicht die Band war, nach der ich gesucht hatte. Gemeint war die schrammelige Garagenpop-Band Chastity Belt, bestehend aus vier Frauen aus Walla Walla im US-Staat Washington. Ich liebe die etwas hängende, fast nörgelige Stimme der Leadsängerin Julia Shapiro. Sie erinnert mich an die von Chris Carrabba, der sich Anfang der Nullerjahre mit seiner Band Dashboard Confessional in mein Teenieherz litt. Chastity Belt sind dabei aber um einiges abgeklärter. Sie lassen sich viel Zeit für musikalische Intros und Bridges, während derer man beim Zuhören fast körperlich abhängen kann, und sprechen in ihren Texten unter anderem auch davon, wie es sich als Frau in einer patriarchalen Gesellschaft leben oder eben verzweifeln lässt. In dem Song Drone beispielsweise, der auf dem zweiten, 2015 erschienenen Album Time to go home zu hören ist, geht es ganz explizit um Mansplaining, wenn sie singen: "He was just another man, tryn’a teach me something." Wegen all dem liebe ich sie sehr.
Aber zu all dem kommen wir nicht. Denn die Band, benannt nach einem der perversesten Instrumente der Unterdrückung der Frau, dem Keuschheitsgürtel, schreibt man mit "Cha" und nicht mit "Che". Mein Fehler. Schreibfehler. Das passiert mir oft, wenn ich unsicher bin.
Eine Party vergangenen Sommer. Die Stimmung ist so mittel. Hier und da stehen ein paar Grüppchen, knabbern irgendwas und reden über Politik. Es gäbe Raum, zu tanzen, aber irgendwie wollen alle lieber reden. Ich nicht. Langsam sneake ich mich an den Rechner, den die Gastgeber*innen in einer Ecke des Raumes platziert haben, und setze mich vor die Playlist. Sofort sitzt ein Mann neben mir, jünger oder älter, und hat eine Idee (schreiend): "Spiel mal Daft Punk, das ist gut für nebenbei!" – "Nein Mann, ich will Party machen!", motze ich. "Ja dann mach halt!", pampt er zurück. Er schaut mir über die Schulter, während ich in meinem Gedächtnis krame. Sein Fuß wippt zu einem der Songs, der ihm spontan einfällt und den er nebenbei in mein Ohr pfeift. Ich sehe ihn an. "Gib mal her", sagt er, fast mitleidig, und nimmt mir den Laptop ab. Wir hören Haiyti. Die Frau ist spitze. Die Leute, die vorher noch diskutiert haben, fangen langsam an, zu tanzen. Ich hab keine Lust, bleibe sitzen und nehme mir vor, diesen Text zu schreiben.
Der Raum der Verhandlung
Eine Gruppe Jungs sitzt in einem Probenraum im Keller irgendeines Elternhauses. An den Wänden hängen Poster, darunter stehen eine ausrangierte Couch und ein Glastisch, wie er sonst mit Spitzendecken bei den Großeltern zu finden ist. Eine kiffende Tonfigur sieht mich von der Kante ihres Ascheschälchens mit klobigen Augen an. Ich bin 15.
Die Jungs gründen eine Band. Es gibt einen Bassisten, einen Drummer und einen Leadsänger – alle haben sie Pickel, alle haben sie kaum mehr als ein paar Jahre Unterricht an ihren Instrumenten. Trotzdem ist klar: Das ist der Beginn von etwas Großem. Von jetzt an werden die Dinge um einen herum nur noch in cool und uncool unterteilt. Cool: Alles, was etwas mit Ausnahmezustand zu tun hat. Uncool: Alles, was die bestehende Ordnung erhält oder fördert. Dieser kleine, viel zu dunkle Raum wird plötzlich zum Sehnsuchtsort einer ganzen Stadtjugend. Im Proberaum wird geprobt, rumgehangen, gechillt. Dort wird einer durchgezogen, derbe einer fahren gelassen und hart einen Lachflash gekriegt.
Ich bin die Freundin des Schlagzeugers. Das verschafft mir als einem der wenigen Mädchen Eintritt in den Proberaum und somit in den Raum der Verhandlung. Denn hier wird von nun an die Welt diskutiert, verlacht, karikiert, auf jeden Fall irgendwie in einander gegenseitig stärkende und selbstbestätigende Urteile gefasst.
Ich wundere mich über die krasse Sprache, die Kevin, John und Bro plötzlich in ihren Songtexten gebrauchen, und die viele Wut, die sie zu haben scheinen – wo kommt die nur her? Hier geht es um alles, was diese sehr behüteten Teenieleben zu bieten haben. Im Proberaum wird auch Musik gehört, über Musik gesprochen und geschwiegen. Die Jungs können minuten-, wenn nicht sogar stundenlang schweigend auf ihren angeranzten Couches hängen und nichts sagen. Das ist mir neu. Ich kenne sie aus der Schule. Keine fünf Minuten können sie dort stillsitzen, immer muss jemand entweder laut rülpsen, etwas in Richtung Tafel werfen oder sich eine Zirkelspitze ins Bein fallen lassen. Das gefällt mir an ihnen.
Die erste Zuhörerin des zu oft männlichen Genies
Jetzt sitzen sie da, schweigend, und hören dem leidenden Jonathan Davis zu, dessen Stimme für mich tausendmal brutaler klingt als aller Lärm, den sie jemals von sich gegeben haben. Aber sie lauschen andächtig, als wäre es Beethovens Neunte.
Sie schaffen eine Stille, die ich aus keiner meiner Freundschaften zu Mädchen kenne. Eine Stille, die sich auf einen leidenschaftlich betrachteten Gegenstand bezieht. Eine Stille, die ich seitdem versuche, in meinem Leben zu haben. Von Zeit zu Zeit wurde ich damals in die Gespräche über Musik mit einbezogen. Die des Schweigens mächtigen Freunde erklärten mir die wichtigsten Slangwörter und Abkürzungen. Dabei ist es ziemlich offensichtlich, dass das Interesse an mir als Gesprächspartnerin zumindest auch ein sexuelles ist. Um meine Einschätzung zu einem Song oder einer Band geht es weniger.
Wenn ich an Musik denke, dann ans Peters Violinschulwerk. Das Metronom ist mein Feind. Ich spiele emotional, aber nicht besonders sauber. Ich glaube trotzdem heimlich, dass ich damit auf der richtigen Seite bin. Irgendwann werde ich das beweisen können. Nur gerade interessiert es eigentlich niemanden. Klassik wird hier wirklich nicht geprobt.
Es ist, als wäre auf dem Weg vom Geigenunterricht zu dem Tag im Proberaum ein ganzes Jahrhundert Popkultur an mir vorbeigezogen. Ich habe keine Ahnung, wie ich Indie von Grunge unterscheiden kann; dass es Anarchismus gibt, weiß ich eher aus dem Geschichtsunterricht als aus der Punk-Ära, und ich frage mich immer noch, warum plötzlich alle so schreien. All dieses Wissen fehlt mir. Es wird an den Mädchenköpfen vorbeigelenkt. Also höre ich begeistert zu, stelle Fragen und finde mich wahrscheinlich dort zum ersten Mal in der Position der Dramaturgin wieder, die ich heute bin: die erste Zuhörerin des zu oft männlichen Genies.
Eine Gruppe für die schüchternen Musikliebhaber*innen
Ich werde automatisch traurig, wenn ich mich frage, was ich gern hören will. Dieses Gefühl ist erschreckend. Trotz aller Erziehung zur Selbstständigkeit, zum autonomen Denken und Handeln, mache ich einen intuitiven Bogen um die Musik. Es fehlt mir schlichtweg in vielen Bereichen das Vokabular und die Fähigkeit, Sachverhalte differenziert wahrnehmen und ausdrücken zu können. An die Grenzen der eigenen gesellschaftlich zugewiesenen Zuständigkeit zu stoßen, kann im besten Falle zu Rebellion und Selbstermächtigung führen. Dem voraus ginge aber – und das halte ich für ebenso schwierig – die Konfrontation mit dem eigenen Unvermögen. Die Aufgabe besteht darin, sich selbst in seinem Nichtkönnen zu erkennen und ernst zu nehmen. Ich fürchte mich vor meiner Ahnungslosigkeit und Unkenntnis ebenso sehr wie ich den Mann, der – vielleicht auch nur scheinbar – über dieses Wissen verfügt, verfluche. Ich erschrecke vor meinem eigenen, weiblichen Blick ebenso wie vor den patriarchalen Strukturen, die ihn geprägt haben.
Wir brauchen Zeit, uns selbst zu erobern, und anschließend den Diskursraum, den wir lieben. Ich brauche Zeit, um eine Anfängerin in Musik sein zu dürfen, selbst wenn ich nun seit fast 30 Jahren Musik höre.
Ich möchte über Musik sprechen. Ich möchte Teil dieses Rituals sein, möchte seine Slangwörter wie eine Geheimsprache nutzen. Ich habe oft den Eindruck, es wäre für jeden dieser geschlechterspezifischen Missstände nötig, einen eigenen Gesprächskreis zu gründen. Und hier eben eine Gruppe für die schüchternen Musikliebhaber*innen, eine Gruppe für alle, die es bisher nicht wagten, dieses Thema zu ihrem eigenen zu machen. Hier geht es um Musik. Ich will Musik zu meinem Thema machen.
Vor Kurzem war ich wieder auf einer großen Party. Alle hatten Lust, zu tanzen, aber ein*e DJ*ane fehlte, nur ein Laptop stand in der Mitte des Raums. Dort traf ich eine Frau in meinem Alter. Wir sprachen den ganzen Abend kein Wort, und ich weiß bis heute nicht, wie sie heißt, aber wir spielten unsere Tracks. Andere Gäste kamen zu uns und machten Vorschläge. Wir feierten eine wunderbare kollektive Party. Mein Endorphin-Flash wuchs mit jedem Song, den wir spielten. Wir spielten Die Antwoord, Azealia Banks, Beyoncé, Chastity Belt, Warpaint, Feist, Ace Tee, Haiyti, Princess Nokia, Cardi B, Tank and the Bangas. Es war wunderbar. Wir haben getanzt bis in den Morgen.
Theresa Seraphin studierte Dramaturgie, Komparatistik und Kunstgeschichte an der Theaterakademie August Everding, der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Kyonggi University in Seoul. Sie arbeitet als Dramaturgin an der Arge Salzburg und als Theaterautorin in München, wo sie das Netzwerk Münchner Theatertexter*innen gründete. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen. |
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