Als das Finale der Fußballweltmeisterschaft in Moskau begann, harrte Oleh Senzow wie immer im Straflager Weißer Bär im Norden Russlands aus, wo die Sommernächte kurz und dämmrig sind. Aber dann tauchte er doch unerwartet auf im Moskauer Luschniki-Stadion, nur kurz und als Zitat, dafür direkt vor Wladimir Putins VIP-Lounge: Mitglieder von Pussy Riot flitzten über das Spielfeld, protestierten gegen Folter in russischen Gefängnissen und forderten die Freilassung aller politischen Gefangenen. Einer der Berühmtesten ist kein Russe, sondern Ukrainer: Oleh Senzow, 42 Jahre alt, Vater zweier Kinder, im August 2015 von einem russischen Militärgericht zu 20 Jahren Haft verurteilt.
Vor vier Jahren wurde Senzow auf der Krim festgenommen und dann nach Russland gebracht. Seither ist sein Leben wie eingefroren. Für Journalisten ist es mittlerweile nicht leicht, über ihn zu berichten. Alles, wovon zu erzählen wäre, ist wieder und wieder und wieder gesagt und geschrieben worden: Da wird Senzow und einigen anderen Angeklagten vorgeworfen, Parteizentralen angezündet und Anschläge auf der Krim geplant zu haben – ohne der Öffentlichkeit Beweise zu präsentieren.
Da werden Urteile aufgrund von Aussagen gefällt, die später von den Angeklagten widerrufen werden – sie seien unter Folter erpresst worden. Da behauptet Senzows Anwalt Dmitri Dinse, dass kein belastendes Material gefunden wurde. Weiter darf er sich nicht äußern, denn auch das war Bestandteil des Prozesses: Den Anwälten wurde eine Schweigepflicht auferlegt. Da werden im Ausland Petitionen verfasst, da schreiben Berühmtheiten Bittbriefe an Wladimir Putin, da wird über jedes Unrecht, das Senzow widerfährt, wieder und wieder berichtet, aber es hilft nichts. Die Jahre ziehen dahin, Oleh Senzow sitzt weiter ein. Vielleicht steckt genau darin Kalkül: Es soll die Gewöhnung an etwas eintreten, woran man sich niemals gewöhnen dürfte.
Womöglich hat dieser Stillstand, diese Erstarrtheit seines Lebens dazu geführt, dass Oleh Senzow zu dem radikalsten Mittel gegriffen hat, das ihm zur Verfügung steht: dem Hungerstreik. Er fordert aber nicht etwa seine Freilassung, sondern die anderer politischer Gefangener aus der Ukraine, die in russischen Gefängnissen ausharren. Seit 87 Tagen nimmt Senzow keine Nahrung zu sich.
Die Gewöhnung an diesen Krieg hat längst eingesetzt
Menschen, so heißt es, können etwa drei Monate ohne Nahrung aushalten. Manche sterben früher, andere halten länger durch, jedenfalls dürfte Senzows Zustand ernst sein, auch wenn er Infusionen mit Nährstoffen wie Glukose, Aminosäuren und Vitaminen verabreicht bekommt, auch wenn er täglich dreieinhalb Liter Wasser trinkt, auch wenn er unter medizinischer Beobachtung steht. Wie ernst, das ist schwer zu sagen. Wenige bekommen den Gefangenen zu sehen. Die Menschenrechtsbeauftragte Putins behauptete gar, Senzows Hungerstreik sei eine Art Heilfasten, er habe zugenommen, was Senzows Anwalt Dmitri Dinse sogleich bestritt: 13 Kilogramm habe sein Mandant verloren – und das war im Juni.
Manche begreifen nicht, dass Senzow kein Gnadengesuch an den russischen Präsidenten stellen will und nun auch noch sein Leben riskiert. Und doch ist es nicht anders als mutig zu nennen, wenn ein Mensch bedingungslos für andere einsteht. Wenn er sein Leben aufs Spiel setzt, um an das anderer zu erinnern.
Senzows vier Jahre Haft fallen zusammen mit vier Jahren Krieg in der Ostukraine. Die Gewöhnung an diesen Krieg hat längst eingesetzt, weil er nicht weiter eskaliert und immer weiter wegrückt. Zu diesem Krieg gehört, dass nicht nur um eine Front gekämpft wird, sondern Zivilisten als Verhandlungsmasse missbraucht werden. Selbst wer weit weg ist vom Kampfgebiet, kann zum Opfer werden.
In Russland wird der Journalist Roman Suschtschenko zu zwölf Jahren Haft verurteilt, dafür wird wiederum in der Ukraine Kirill Wischinski der Prozess gemacht, der die russische Staatsagentur Ria Novosti in der Ukraine leitet. Auf der Krim werden Aktivisten dafür verhaftet, ukrainische Fahnen aus ihrem Fenster zu hängen, in Belarus ein 19-jähriger Student vom russischen Geheimdienst nach Russland verschleppt. Oleh Senzow ist einer von etwa siebzig ukrainischen politischen Gefangenen, die Opfer eines Konflikts geworden sind, der längst nicht nur entlang der Front ausgetragen wird.
Die Fußball-WM versprach weltweite Öffentlichkeit, und Oleh Senzow schien diese nutzen zu wollen, als er Mitte Mai zu hungern begann. Doch die Aufmerksamkeit hat nichts bewirkt. Sie hat seinem Anliegen nichts genützt. Er, Oleh Senzow, Ukrainer, Vater zweier Kinder, sitzt immer noch in einem russischen Straflager ein, und das ist eine Ungeheuerlichkeit, an die sich niemand gewöhnen darf.