Fünf vor 8:00: Indizienkette nach Moskau - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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FÜNF VOR 8:00
08.10.2018
 
 
 
   
 
Indizienkette nach Moskau
 
Ob Hackerangriffe oder das Skripal-Attentat: Russlands Regierung wird für Vieles verantwortlich gemacht. Einen Beweis gibt es nicht – doch die Indizien sind erdrückend.
VON MARTIN KLINGST
 
   
 
 
   
 
   

Zugegeben, man darf es sich nicht so einfach machen wie Großbritanniens Premierministerin Theresa May und – schon bevor man genauer recherchiert hat – sagen: Hinter dem Giftanschlag auf den abtrünnigen russischen Agenten Sergej Skripal und seine Tochter Julia stünden unzweideutig der Kreml und Russlands Geheimdienste. Ebenso wenig gibt es bislang den einen schlagenden Beweis für die von westlichen Staaten erhobene Behauptung, die russische Regierung habe die verheerenden Hackerangriffe der vergangenen Jahre befehligt; sei es auf die amerikanischen und französischen Präsidentschaftswahlen, sei es auf die Datennetze des Deutschen Bundestags, auf die Welt-Anti-Doping-Agentur oder auf die Organisation für das Verbot von Chemiewaffen. Niemand hat bislang Präsident Wladimir Putin auf frischer Tat ertappt. Kein Regierungsmitglied, kein Geheimdienstchef hat ein Geständnis abgelegt.
 
Aber auf diesen einen, schlagenden, über alle Zweifel erhabenen Beweis kommt es auch gar nicht an. Denn es existiert inzwischen eine Vielzahl an Indizien, mit denen sich die Spuren der Täter bis nach Russland und in die Moskauer Machtzentralen zurückverfolgen lassen. Und auch Indizien sind Beweise.
 
Da ist zum Beispiel der Fall des Giftanschlags auf Skripal im englischen Salisbury im März 2018. Damals wies die russische Regierung brüsk und unverzüglich jede Schuld von sich und sprach von einer westlichen Verleumdungskampagne – nicht ohne einen gewissen medialen Erfolg. Doch inzwischen haben die Ermittler eine Reihe sogenannter Anzeichenbeweise gesammelt. Und diese Indizien sind hart.
 
Geschichte voller Widersprüche
 
Die britische Polizei schrieb als mutmaßliche Täter zwei Russen zur Fahndung aus. Sie sollen mit Pässen nach Großbritannien eingereist sein, die auf die Namen Alexander Petrow und Ruslan Boschirow ausgestellt waren. Kurz darauf sagte Putin, er hoffe, dass sich die beiden bald meldeten, um etwaige Missverständnisse auszuräumen. Und siehe da, die Männer traten postwendend im russischen Fernsehen auf und bestätigten, dass sie diejenigen seien, die man auf britischen Videoaufzeichnungen sehen könne.
 
Dann aber erzählten sie eine Geschichte voller Widersprüche. Sie seien keine Agenten, sondern Zivilisten. An dem Tag des Mordanschlags seien sie als Touristen nach Salisbury gefahren und hätten auf Empfehlung die berühmte Kathedrale mit ihrem 123 Meter hohen Turm und der einzigartigen Glocke besichtigen wollen. Vielleicht seien sie da zufällig an Skripals Haus vorbeigekommen. Doch weil das Wetter so schlecht war – es habe Schnee gelegen – seien sie schnell nach London zurückgekehrt. Allerdings ist auf den offiziell veröffentlichten Fotos an diesem Tag kein Schnee zu sehen. Und Skripals Haus lag nicht in der Nähe der Kathedrale.
 
Und es gab weitere Merkwürdigkeiten, die die Verteidigungsstrategie der mutmaßlichen Attentäter in sich zusammenfallen ließ. So ergab eine Prüfung der Fotos der Tatverdächtigen, dass Ruslan Boschirow in Wahrheit Anatolij Tschepiga heißt – und ein hochdekorierter Offizier des russischen Militärgeheimdienstes GRU ist. Mehr noch: Tschepiga soll 2014 für seine Einsätze in Tschetschenien als "Held der Russischen Föderation" ausgezeichnet worden sein. Diesen höchsten Orden verleiht in der Regel Russlands Präsident persönlich – und der hieß auch damals schon Wladimir Putin.
 
Geheimbündnis mit strengem Ehrenkodex
 
Diesen Indizien wird gern entgegengehalten, Russland, seine Regierung und seine Nachrichtendienste seien doch nicht so töricht und würden sich auf eine derart plumpe Weise eines von der Fahne gegangenen Spions entledigen. Doch lässt diese Behauptung außer Acht, dass sich Russlands Nachrichtendienste wie ein Geheimbündnis mit strengem Ehrenkodex verhalten: Abtrünnigen gegenüber gibt es keine Nachsicht, sie werden mit heiligem Zorn verfolgt – und bisweilen mit dem Tod bestraft. Das ist keine Frage des nüchternen Kalküls, sondern Folge eines tief verletzten Ehrgefühls. Die Geschichte russischer Geheimdienste kennt viele Rachemorde.
 
Sergej Skripal, ein ehemaliger Beamter des russischen Militärgeheimdienstes GRU, der zu den Engländern übergelaufen war, ist aus Sicht seines einstigen Dienstherren ein Verräter – auch in den Augen des ehemaligen KGB-Offiziers Wladimir Putin. Tat dieser anfangs noch so, als sei Skripal völlig unbedeutend und er selbst, Putin, wisse gar nicht so recht, um wen es sich eigentlich handele, verlor der Präsident vergangene Woche jede Contenance. "Einige glauben, Herr Skripal sei so etwas wie ein Menschenrechtsaktivist", wütete Putin in aller Öffentlichkeit: "Er ist aber nur ein Dreckskerl, sonst nichts."

Auch vergeht kaum ein Monat, in dem Russland nicht einer neuen Cyberattacke verdächtigt wird. Vergangene Woche machte der niederländische Geheimdienst einen Angriff publik, der sich offenbar bereits im April ereignete. Demnach sollen vier Russen probiert haben, in das WLAN der in Den Haag ansässigen Organisation für das Verbot chemischer Waffen (OPCW) einzudringen. Sie seien drei Tage vor der Tat eingereist und hätten in einem angemieteten Pkw der Marke Citroën mit einer speziellen elektronischen Ausrüstung versucht, sich in das Netz der OPCW-Zentrale einzuschleusen. Die Verdächtigen wurden verhaftet und noch am selben Tag ausgewiesen, der niederländische Geheimdienst veröffentlichte ihre Fotos und Namen. Demnach sind die vier, genauso wie der mutmaßliche Skripal-Attentäter Tschepiga, Offiziere des GRU.
 
Russland hätte auch Motive
 
Russlands Militärgeheimdienst werden auch die Hackerangriffe auf den Bundestag, auf die Welt-Anti-Doping-Agentur Wada und auf weitere Organisationen bezichtigt. So führten Spuren der Cyberattacke auf das Datennetz des Bundestags und auf die E-Mails der Demokratischen Partei in den USA zu der sogenannten Kampagne APT28 (Advanced Persistent Threat 28). Hinter dieser Kampagne, auch "Fancy Bear" genannt, verbirgt sich nach Auffassung westlicher Geheimdienste ein Hackerkollektiv des GRU.
 
Und als wäre das nicht genug, gibt es auch eine Motivlage, die für eine russische Täterschaft spricht. So wird der russische Staat schon lange verdächtigt, Sportler gezielt gedopt zu haben. Mit den Angriffen auf die Wada und den Leichtathletikverband IAAD wollten die Hacker Informationen knacken – und womöglich manipulieren. Wer außer Russland sollte daran ein Interesse haben? Vergangene Woche klagte die USA sieben Agenten des russischen Geheimdienstes unter anderem wegen dieser Cyberattacke an.
 
Und wem außer Russland ist das OPCW in Den Haag ein Dorn im Auge? Die Organisation untersucht den Anschlag auf Skripal – und die Chemiewaffenangriffe des syrischen Diktators Baschar al-Assad, dessen Verbündeter Russland ist.
 
Juristen sprechen bei Indizien von auf Tatsachen beruhenden Anzeichenbeweisen. Ein einzelnes Indiz vermag für sich allein noch keine Täterschaft des GRU und des Kreml belegen; die Vielzahl der inzwischen bekannten Indizien hingegen schon. Und die weisen deutlich in Richtung Moskau.

 


 
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SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Hacker-Attacke aus dem Mietwagen
WASHINGTON POST This is how Putin bullies and intimidates his enemies

 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.