Zu einem der hartnäckigen Mythen über Russland gehört, dass die Medien dort gleichgeschaltet seien. Allesamt ein willfähriges Instrument des Kremls, lauter Infokrieger im Kampf an der Propagandafront. Es stimmt: Die TV-Sender in Russland werden vom Staat kontrolliert. Aber es stimmt eben auch nicht – denn Russland ist kein totalitärer Staat, sondern eine Autokratie der vielen Grautöne.
Seit dem Nowitschok-Anschlag auf den Doppelagenten Sergej Skripal und seine Tochter spulen die russischen Fernsehsender immer unterschiedliche Geschichten ab, die immer das gleiche Ende haben: Der russische Geheimdienst habe rein gar nichts damit zu tun. Mal klagt eine Skripal-Verwandte, ihr Onkel habe womöglich nur eine Fischvergiftung. Mal erzählen herbeizitierte Experten, die Nowitschok-Geschichte sei eine britische Nebelkerze, um von den Brexit-Problemen abzulenken. Mal meint ein Politiker, Russland habe Nowitschok nie produziert, ein anderes Mal, alles sei eine Geheim-Operation des russophoben Westen gegen Russland. Zusammengenommen ergeben die Geschichten kein stimmiges Bild, aber wen interessiert das schon? Bei dem Zuschauer bleibt hängen: Alles eine Provokation des Westens.
Der Höhepunkt der staatlichen Skripal-Berichterstattung war ein Interview der RT-Chefredakteurin, die die mutmaßlichen Attentäter auf deren Wunsch interviewte. Sie arbeiteten doch nur in der Sportnahrungsindustrie, beteuerten die beiden großäugig, waren die gut 3000 Kilometer für ein verlängertes Wochenende nach London gereist, um gemeinsam eine gute Zeit zu haben und sich den 123 Meter hohen Kirchturm in Salisbury anzuschauen. Dafür reisten sie gleich zwei Mal in Folge nach Salisbury, kamen am Haus von Sergej Skripal vorbei und hatten gleich zwei Rückreisetickets an zwei darauffolgenden Tagen in der Tasche.
Das ist der Nebel, den die Staatsmedien verbreiten. Aber es gibt russische Medien und Blogger, die tatsächlich aufdecken statt vernebeln. Das britische Recherchekollektiv Bellingcat, das von russischen Staatsmedien und seinen Anhängern gern als bezahlter Agent westlicher Geheimdienste diffamiert wird, hat zwar als erstes die Recherchen publiziert, die alles ins Rollen brachten – aber mit der Unterstützung eines russischen Publizisten, dem Chefredakteur der Online-Seite The Insider. Anschließend waren es (nicht nur, aber insbesondere) russische Journalisten, die weitere Informationen zusammengetragen haben: Die russischen Blogger von Conflict Intelligence Team, die Journalisten von Fontanka, die Reporter der Tageszeitung Kommersant, deren investigative Blütezeit schon länger zurückliegt, seit sie einem Kreml ergebenen Oligarchen gehört, die Journalisten der Medienholding RBK und der Nowaja Gaseta.
Bis sich das Bild nach und nach doch zusammenfügte. Demnach heißen die beiden Männer anders als in dem RT-Interview, nämlich Anatoli Tschepiga und Alexander Mischkin. Sie handeln nicht mit Sportlernahrung, sondern sind aller Wahrscheinlichkeit nach Agenten des russischen Militärgeheimdienstes (GRU), unter dessen Adressen sie gemeldet waren. Beide wurden für ihre Verdienste ausgezeichnet, Tschepiga anscheinend für seinen Einsatz in der Ukraine, Mischkin für seine Taten in Tschetschenien. Dank ihrer Pässe, deren Nummerierung sich nur in einer Zahl unterscheidet und die nahezu zeitgleich ausgestellt wurden, flog zudem die Identität anderer Geheimdienstler auf, deren Ausweise eine ähnliche Nummerierung aufwiesen. Und es gibt laut Fontanka einen weiteren Verdächtigen.
Der Fall Skripal ist nicht der einzige, bei dem russische Investigativjournalisten die Machtstrukturen kompromittieren. Auch die Machenschaften der russischen Trollfabrik in Sankt Petersburg und der privaten Söldnerarmee Wagner, die einem Freund von Wladimir Putin gehören, haben zum großen Teil russische Medien aufgedeckt.
Wie aber kann es sein, dass in Russland ein autokratischer Staat herrscht und kritische Journalisten dennoch ihre Arbeit machen können? Zum einen sind die kritischen Medien im russischen Diskurs weitgehend bedeutungslos. Sie besetzen Nischen, die vorherrschende Meinung aber wird noch immer von den Staatssendern mit ihren abstrusen Theorien bestimmt. Zum anderen ist ein autokratisches System eben kein totalitäres: Komplette Kontrolle ist nicht ohne weiteres möglich, der Apparat zeichnet sich durch Machtkämpfe und widerstrebende Interessen aus. Für die russischen Journalisten bedeutet das, mit der Unberechenbarkeit des Systems leben zu müssen, die gefährlich sein kann – für das eigene Leben und das Medium, für das sie arbeiten.
Als ich vor kurzem den Chefredakteur von Fontanka fragte, das sowohl zu dem Skripal-Fall als auch zu der privaten Söldnerarmee Wagner investigativ recherchierte, warum sein Medium eigentlich noch nicht dichtgemacht wurde, antwortete der: "Das frage ich mich auch manchmal. Vielleicht, weil dem Kreml sonst langweilig wäre."