10 nach 8: Asmaa Yousuf über Migration

 
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31.10.2018
 
 
 
 
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Halima und ihre Töchter
 
Anke und Daniel Domscheit-Berg haben 2016 eine syrische Mutter und ihre drei Mädchen bei sich aufgenommen. Wie haben sie sich in Fürstenberg an der Havel eingelebt?
VON ASMAA YOUSUF

Halima und ihre Töchter – Szenen aus Fürstenberg an der Havel © Heike Steinweg
 
Halima und ihre Töchter – Szenen aus Fürstenberg an der Havel © Heike Steinweg
 
 

Angefangen hat alles am 8. März 2016, am Weltfrauentag, erzählt Daniel Domscheit-Berg. Er habe am Bahnhof gewartet. Als die Frau und die drei kleinen Mädchen aus dem Zug stiegen, hätten sie sehr verängstigt gewirkt. Er habe sie zu sich nach Hause gebracht und sei unsicher gewesen, wie er sich verhalten, was er sagen sollte. Die vier hatten offensichtlich große Angst vor ihm. Zu Hause angekommen sei er mit ihnen in die Küche gegangen, habe ihnen alles gezeigt, ein paar simple Wörter auf Arabisch eingestreut, vergebens. Schließlich habe er die Legosteine seines Sohnes geholt. Und da sei etwas Verblüffendes passiert: Die Kinder hätten angefangen, eine Stadt zu bauen, Haus um Haus, dann eine Schule, bis die Stadt fertig war. Da habe er begriffen, dass sie trotz all der Zerstörung, die sie in Syrien erlebt hatten, hier in Deutschland etwas Neues aufbauen wollten. Sichtlich gerührt bittet er mich an dieser Stelle, das Gespräch kurz zu unterbrechen.

Ankunft

Als wir den Garten von Daniel Domscheit-Berg betreten, um Halima, jene Syrerin, mit ihren drei Töchtern zu treffen, sitzt sie gerade mit ein paar deutschen Frauen beisammen. Eine Frau in den Vierzigern erzählt etwas, die anderen hören zu. Als sie uns sehen, unterbrechen sie ihr Gespräch. Die Frauen stehen auf und verabschieden sich mit sichtbarer Hochachtung von Halima. Sie kommt auf uns zu, um uns zu begrüßen. Halima stammt aus einem Dorf in der Provinz Aleppo, wo sie mit ihrem Mann in der Landwirtschaft tätig war. Die Schule hat sie nur vier Jahre lang besucht, konnte bis vor Kurzem kaum lesen und schreiben. "Mein Mann ging 2014 nach Deutschland", erzählt Halima, "aber ich wollte bleiben, trotz Krieg. Doch dann kamen die Angriffe und die Explosionen immer näher. Nachbarn starben vor unseren Augen. Wir flohen in die Felder, um uns zu verstecken. Aber irgendwann konnte man sich nirgendwo mehr verstecken. Ich wollte nicht nach Deutschland. Ich hatte gehört, dass es dort schlimme Leute gibt. Deshalb hatten wir auch große Angst, als wir in Fürstenberg aus dem Zug stiegen."

Eine Bundestagsabgeordnete strickt Pullover

Aus Angst um sie und die drei Kinder bestand Halimas Ehemann darauf, dass alle vier Syrien verlassen und ihm folgen. Also machte sich Halima Ende 2015 mit den Mädchen Richtung Türkei auf. Es gelang dem Ehemann, zusammen mit einer deutschen Helferin, den Familiennachzug in die Wege zu leiten. Am 3. März kam Halima mit den drei Töchtern schließlich in Deutschland an. Sie kamen zunächst illegal im Wohnheimzimmer des Mannes in Hennigsdorf unter. "Wir verbrachten dort fünf Tage heimlich und in ständiger Angst, vom Wachpersonal entdeckt zu werden", erzählt Halima. "Dann kam die Lehrerin meines Mannes und teilte uns mit, dass sie ein Ehepaar in Fürstenberg kenne, Daniel und Anke, mit einem großen Haus, die Neuankömmlinge beherbergen, bis sie eine eigene Unterkunft gefunden haben. Tatsächlich waren die beiden bereit, uns für 15 Tage aufzunehmen. Also stieg ich alleine mit den Mädchen in den Zug. Daniel wartete schon am Bahnhof und empfing uns wie Verwandte. Wir waren überrascht. Daniel und Anke waren ganz anders als die Leute, von denen wir in Syrien gehört hatten. Er lächelte uns an und war sehr nett zu uns. Er und seine Frau überließen uns das Obergeschoss ihres Hauses. Obwohl Anke als Politikerin immer viel um die Ohren hat, spielte sie mit den Mädchen und strickte sogar Socken, Pullover und Schals für sie.

Eine starke Frau

Halima hatte es nicht leicht. Kaum war sie mit den Kindern bei Daniel und Anke eingezogen, häuften sich die Probleme mit ihrem Ehemann. Schließlich kam es zur Trennung. Seitdem sorgt Halima alleine für sich und die Kinder. Nebenher noch Deutsch zu lernen, kostete sie viel Zeit und Mühe, zumal sie bislang nur arabische Buchstaben kannte. Doch Daniel und Anke halfen auch hier. Sie holten eine Deutschlehrerin ins Haus, bis Halima und die Kinder überall regulär angemeldet waren. Halima macht den Eindruck einer willensstarken Frau. Einst einfache Dorfbewohnerin, die dem Mann in der Landwirtschaft half, begleitet sie nun ihre Kinder kreuz und quer durch eine deutsche Stadt. Vor Kurzem kannte sie keine lateinischen Buchstaben, jetzt spricht sie schon einigermaßen gut Deutsch und hat soeben ihre B1-Prüfung bestanden.

Halima bedeutet wörtlich "die Sanfte". Der Name passt gut zu ihr. Sie wirkt ruhig, spricht leise, lächelt immer. Doch sie hat ihr Leben im Griff und ganz offensichtlich einiges auf dem Kasten.

Die Jüngste will Polizistin werden

Drei Wundermädchen

Wie die Mutter, so die Tochter, heißt ein arabisches Sprichwort. Das scheint auch auf Halima und ihre drei Mädchen zuzutreffen, die inzwischen fließend Deutsch sprechen und in der Schule glänzen. "Sie haben die Sprache von Anfang an gemocht", sagt Halima. "Anke und Daniel haben ihnen spielerisch einige Worte beigebracht, sodass sie schon etwas Deutsch konnten, bevor sie hier in die Schule kamen. Dort sind sie beliebt." Beim Elternabend schwärmen die Lehrer und Lehrerinnen von den drei Mädchen und ihrem guten Benehmen. Daniel Domscheit-Berg erzählt mit unverhohlener Bewunderung, dass er gestaunt habe, wie schnell die drei Mädchen die neue Sprache gelernt und wie schnell sie groß geworden seien. In der Freizeit gehen Halimas Töchter zum Aikidō-Training. Die zehnjährige Rana, die mittlere der drei Schwestern, besucht die zweite Klasse und erklärt uns, warum ihr Aikidō gefällt: "Ich wollte Aikidō machen, um mich selbst verteidigen zu können. Die Deutschen sollen wissen, dass ich Mumm habe und nicht ängstlich bin. Ich kann mich und andere verteidigen. Wenn jemand unterdrückt wird, den will ich gern verteidigen." Die jüngste der drei Schwestern, die siebenjährige Erstklässlerin Reham, will später mal Polizistin werden. Auch sie darf die beiden großen Schwestern schon zum Aikidō begleiten. Die zwölfjährige Reem, Schülerin der vierten Klasse, trainiert neben Aikidō auch noch Handball. Sie hat momentan den Berufswunsch Sportlehrerin, weil ihr das Schulfach viel Spaß macht und sie in Sport eine Eins hat.

Drei Mal R – für eine spezielle Art der Integration

Die Leute im Ort mögen Halima und ihre drei Töchter Rana, Reham und Reem. Alle scheinen nur darauf zu warten, von Halima um einen Gefallen gebeten zu werden. Dass die drei Mädchen absolute Sympathieträgerinnen seien, sei ihnen größtenteils selbst zuzuschreiben, meint Daniel Domscheit-Berg. Unentwegt erzählt er, wie sehr er die drei Mädchen und ihre Cleverness bewundere. Schon nach wenigen Tagen hätten sie mit ein paar aufgeschnappten Wörtern die Leute vor dem Haus auf Deutsch angesprochen und gefragt, wie es ihnen gehe. Die Passanten hätten gelacht und zurückgegrüßt. Von dem Tag an habe man im ganzen Ort die drei syrischen Mädchen bewundert, die sich auch weiterhin um Kontaktaufnahme bemüht hätten. Jeder kenne sie inzwischen. Sie und ihre Mutter Halima hätten viele Freundschaften geschlossen.

Mittlerweile hat Halima auch eine Wohnung für sich und die Mädchen gefunden. Doch alle drei kommen, wie viele andere Kinder aus Fürstenberg, nach wie vor gerne zu Daniel und Anke, um dort im Garten zu spielen. Auf die Frage, ob sie nach Syrien zurückwollen, antworten sie sofort: "Wir wollen hierbleiben. Hier haben wir Daniel und Anke. Und das Trampolin und die Schaukel im Garten." Für Halima und ihre Mädchen haben sich hier neue Wege eröffnet und es macht den Eindruck, als hätten sie in Fürstenwalde schon ein Stück Zuhause gefunden.

Der Text und die Fotos sind im Rahmen des Wir-machen-das-Tandemprojekts Wir sind Viele. Geschichten aus der Einwanderungsgesellschaft (www.wirmachendas.jetzt) entstanden, das von der Beauftragten der Bundesregierung für Migration, Flüchtlinge und Integration gefördert wird.

Asmaa Yousuf, geboren 1980 in Alexandria, Ägypten, lebt seit 2015 in Berlin. Sie studierte Politikwissenschaften und arbeitet als Journalistin uunter anderem bei Amal Berlin. Asmaa Yousuf ist Gastautorin von "10 nach 8".

Heike Steinweg, geboren 1966 in Aachen, ist Porträtfotografin. Ihre Bilder werden international in Einzel- und Gruppenausstellungen gezeigt. 2018 war ihre fotografische Arbeit "Ich habe mich nicht verabschiedet" über Frauen im Exil in Berlin zu sehen.


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