Fünf vor 8:00: Europa ohne Stabilitätsanker - Die Morgenkolumne heute von Matthias Naß

 
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FÜNF VOR 8:00
17.10.2018
 
 
 
   
 
Europa ohne Stabilitätsanker
 
Die innenpolitische Schwäche der Bundesregierung begrenzt auch ihre außenpolitische Gestaltungskraft – zu einer Zeit, da die EU diese ganz besonders braucht.
VON MATTHIAS NASS
 
   
 
 
   
 
   

Die deutsche Parteienlandschaft splittert immer weiter auf. Die Landtagswahl in Bayern hat dies ein weiteres Mal gezeigt. Nach der SPD droht auch die Union ihren Charakter als Volkspartei zu verlieren. Noch ist es nicht so weit. Aber wie rasch ruhmreiche Parteien in die Bedeutungslosigkeit absinken können, zeigen Frankreich und Italien.
 
Vielleicht wachsen die Grünen zur neuen Volkspartei der Mitte heran. Mit ihrer Liberalität, Weltoffenheit, Europafreundlichkeit und ökologischen und gesellschaftlichen Modernität könnten sie ein Segen nicht nur für die Bundesrepublik, sondern auch für Europa werden. Aber ob den Grünen dies gelingt, ist keineswegs gewiss.
 
Halten wir uns also an das, was sich vor unseren Augen auf dramatische Weise vollzieht: der Niedergang von Sozialdemokratie und Christdemokratie. Sollte sich diese Entwicklung in Deutschland fortsetzen, bliebe das nicht ohne Folgen für die Europäische Union. Denn in den vergangenen Jahren war Deutschland so etwas wie der Stabilitätsanker in Europa. Die Bundesrepublik galt bisher, schreibt Wolfgang Ischinger in seinem Buch Welt in Gefahr, als "verlässlicher Fels in der Brandung, als eine Insel der Vernunft im Meer von Eitelkeiten und Irrationalitäten".
 
Die EU als "Gefängnis"
 
Welches Ausmaß diese Irrationalitäten erreichen können, zeigte sich zuletzt auf dem Parteitag der britischen Konservativen. Außenminister Jeremy Hunt verglich in seiner Rede die EU mit der verblichenen Sowjetunion und sagte, die EU drohe sich für ihre Mitglieder zu einem "Gefängnis" zu entwickeln. Und wenn die EU zum Gefängnis werde, so Hunt, "dann werden wir nicht die einzigen Häftlinge sein, die zu fliehen versuchen". Wohlgemerkt, dies sagte Londons Außenminister auf dem Parteikongress in Birmingham, nicht ein skurriler Redner auf seiner Trittleiter in der Speakers’ Corner am Hyde Park.
 
Ein Gefängnis ist die Europäische Union nicht, aber sie ist in einem beklagenswerten Zustand. Fast alle EU-Regierungen sind derzeit damit beschäftigt, die europafeindlichen Kräfte in ihrem Land zurückzudrängen – wenn diese nicht bereits in der Regierung sitzen wie in Rom, Budapest oder Warschau.

In dieser Situation richten sich die Blicke besonders auf Deutschland. Von der Regierung in Berlin wird Führung erwartet. Natürlich, wer Führung ausübt, sieht sich schnell dem Vorwurf des Strebens nach Dominanz ausgesetzt. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder beschreibt das Dilemma anschaulich in seinem gerade erschienenen Buch Wer hat Angst vor Deutschland?.
 
Dieses Dilemma von Ruf nach Führung und Kritik an Dominanzstreben haben wir in den zurückliegenden Jahren zweimal erlebt, bei der Währungs- bzw. Schuldenkrise und bei der Flüchtlingskrise. Beide Male hat Deutschland den Ton angegeben – und konnte es niemandem recht machen.
 
Dennoch wird die Bundesrepublik auch künftig wegen ihrer Größe, Wirtschaftsmacht und geografischen Mittellage für die weitere Entwicklung der EU die entscheidende Rolle spielen. Und deshalb ist es wichtig, dass Deutschland ein Stabilitätsanker bleibt. 
 
Proeuropäischer Konsens in Deutschland – noch
 
Aber auch bei uns sitzen die Nationalisten und Europafeinde inzwischen im Bundestag. Noch gibt es einen überwältigenden proeuropäischen Konsens in der deutschen Politik. Aber wie lange wird der halten? Zumal dann, wenn sich die Zersplitterung des Parteiensystems fortsetzt und die bisherigen Volksparteien weiter unter Druck geraten. Werden sie den Mut haben, sich Nationalismus und Populismus entgegenzustemmen, ermutigt durch die großen Demonstrationen dieser Wochen für ein weltoffenes Deutschland?
 
Sicher scheint: Eine Partei, die um ihr politisches Überleben oder zumindest um ihre bisherige politische Bedeutung kämpft, fällt als gestaltende Kraft in der Außenpolitik rasch aus. Die Endphase der Kanzlerschaft von Angela Merkel wird dies zeigen.
 
In einer Zeit, in der es auf eine konstruktive Rolle Deutschlands ganz besonders ankommt, wird die innenpolitische Schwäche der Regierung ihrer außenpolitischen Handlungskraft und Gestaltungsfähigkeit Grenzen ziehen. Wer Anzeichen dafür sucht, dass Europa alsbald einen Weg aus seiner tiefen politischen Krise findet, der wird sie im Deutschland des Herbstes 2018 nicht finden.

 


 
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.