10 nach 8: Annika Reich über positives Denken

 
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19.10.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Wünschen ist eine politische Kraft
 
Dass positives Denken und ein gemeinschaftlicher Wille etwas verändern, hat nicht zuletzt #unteilbar gezeigt. Seit fünf Jahren verändert dieses Wünschen mein Leben.
VON ANNIKA REICH

Die #unteilbar-Demo am 13. Oktober: Bis zum Horizont Menschen, die ein gemeinsamer Wunsch eint – und das hat nichts mit Esoterik zu tun. © Carsten Koall/Getty Images
 
Die #unteilbar-Demo am 13. Oktober: Bis zum Horizont Menschen, die ein gemeinsamer Wunsch eint – und das hat nichts mit Esoterik zu tun. © Carsten Koall/Getty Images
 
 

Wünschen wirkt – so fern und magisch das auch klingen mag. In dieser Erkenntnis lag für mich der Zauber der #unteilbar-Demonstration in Berlin. Denn es war ein geteilter Wunsch und kein Eigeninteresse, der 240.000 Menschen in dieser Form zusammenkommen ließ. Es war ein Wunsch, der auf das (etwas altmodisch anmutende) Gemeinwohl zielte, was eine der Grundvoraussetzungen für gelingendes Wünschen ist. Wenn Wünschen wirkt, ist nämlich keine Magie am Werk, sondern das Zusammenspiel von ganz bestimmten Kriterien und Handlungsschritten. Es geht dabei neben der Zielrichtung um Verantwortungsbewusstsein, strategischen Pragmatismus, reflektierten Optimismus, Vernetzungslust und Möglichkeitssinn.

Gesellschaftliche Zustände zu kritisieren oder sie verändern zu wollen, ist lange nicht so erfolgversprechend wie sich einen Wandel zu wünschen. Denn der Wille liebt den großen Auftritt und ist doch eine Mimose, schnell zu erschöpfen und noch schneller zu beleidigen. Wenn er nicht bekommt, was er erwartet, verzieht er sich in seine Ecke und schmollt. Die Kritik wiederum lebt ständig in der Gefahr, die Gegenseite durch das Aufgreifen und Verbreiten ihrer Inhalte mit zu nähren. Will man aber für eine solidarische Gesellschaft kämpfen, ist das ein Langstreckenlauf. Mit einer kritischen Haltung und dem mimosenhaften Willen kommt man da nicht weiter. Was es braucht, ist eine ausdauernde, maßlose Kraft, die ihren Zauber nicht verliert. Es bedarf einer Bewegung, die sich weder wie das Wollen auf ein Objekt noch wie die Kritik auf ein Subjekt bezieht, sondern sich aus der positiven Erfahrung des gemeinsamen Wünschens speist.

"In den alten Zeiten, wo das Wünschen noch geholfen hat", so beginnen viele Märchen, doch die meisten Menschen haben das Wünschen verlernt. Wünschen ist wie Beten ohne Gott. Einige von uns können noch beten, aber die wenigsten können noch welthaltig wünschen, und vielleicht klingen deswegen die Begriffe, die sich darauf beziehen, wie aus der Zeit gefallen: Gemeinwohl, Welthaltigkeit. Dabei hat die Fähigkeit, sich etwas gemeinschaftlich so zu wünschen, dass es auch wirkt, alles andere als ausgedient, denn richtig eingesetzt kann sie eine politische Kraft darstellen, die nicht zu unterschätzen ist.

Die Aufklärung tat alles, um Prinzipien für eine sichere, vorhersehbare und zweckgerichtete gesellschaftliche Praxis zu etablieren, und musste uns dafür das Wünschen so lange austreiben, bis unser Realitätsbewusstsein von einem Mangel-Bedürfnis-Schema geprägt war und wir glaubten, Wünschen sei Weltflucht.

So lernen wir schon als Kinder, Wunschzettel zu schreiben, und sind dann enttäuscht, wenn wir nicht bekommen, was uns das Leben bringt. Doch die Wünsche, die auf Wunschzetteln stehen, sind nicht die Wünsche, die ich meine, dafür sind sie zu leicht zu befriedigen. Das, was hier als Wunsch missverstanden wird, ist eher ein Wollen denn ein Wünschen – ein kümmerlicher Ersatz also, der einem vielleicht ein neues Fahrrad einbringt, aber für das Einstehen und Voranbringen einer gesellschaftlichen Aufgabe nicht taugt. Wünsche sind keine mangelbedingten Konsumenten von produzierter Realität, sondern bedingungslose Produzenten von Realität und damit Wandel. Wünschen ist also ein performativer Akt, der schon allein durch die Tätigkeit des Wünschens eine Realität herstellt.

Die Wünsche ähneln philosophischen Fragen

Ich übe mich seit ungefähr fünf Jahren im Wünschen. Ich wünsche mir also etwas, von dem ich weiß, dass viele Menschen diesen Wunsch teilen. Ich wünsche es mir ganz präzise und bin dabei so offensiv wie möglich. Ich fange nicht an, meinen Wunsch kleiner zu machen, nur weil ich Angst habe, dass er nicht erfüllt werden könnte. Ich lasse den Wunsch also nicht durch einen falsch verstandenen Realismus sich selbst zurechtstutzen, sondern gehe davon aus, dass das Wünschen ein Prozess ist, der sich realisiert. Um seine volle Strahlkraft zu erleben, darf ich ab dann keinen Meter mehr von meinem Wunsch abrücken und muss ihn ständig und ohne mit der Wimper zu zucken im Auge behalten. Das erfordert Übung, vielleicht ein bisschen so wie beim Bogenschießen. Dann artikuliere ich den Wunsch detailliert, überlege, was ich selbst dafür tun kann, tue dies und trage ihn gleichzeitig in die Welt. Ich erzähle so vielen Menschen wie möglich von meinem Wunsch und frage sie, ob sie diesen Wunsch teilen. Wenn es ein Wunsch ist, der aufs Allgemeinwohl zielt, finden sich viele Menschen, die sofort bereit sind, mitzuhelfen oder längst dabei sind, ihn im Rahmen ihrer Möglichkeit zu realisieren. Mit diesen Menschen verbinde ich mich dann. Wenn ich Menschen treffe, die selbst nicht helfen können, aber mitwünschen, frage ich sie, ob sie eine Idee hätten, wie dieser Wunsch sich realisieren könnte. Ich mache mich also mit dem Wunsch sichtbar und angreifbar und stehe für ihn (auch vor mir selbst) ein. So wie es die Organisator*innen der #unteilbar-Demonstration getan haben.

Die Wünsche, die ich meine, sind immer zu groß, um sie direkt zu erfüllen. Sie ähneln den philosophischen Fragen. Es geht also nie um eine Antwort, sondern immer darum, die Frage besser zu verstehen und nicht aufzuhören, bis man so viel wie möglich gedacht hat, was im Spektrum dieser Frage zu denken ist. Die Wünsche richten sich also auch nicht darauf aus, den möglichst kurzen Weg zu ihrer Erfüllung zu gehen, sondern darauf, herauszufinden, was für ihre Erfüllung notwendig ist, und zu reflektieren, was davon innerhalb der eigenen Möglichkeiten liegt. Und beides nicht als zu groß oder zu klein zu bewerten. So haben Wünsche an sich schon einen erfüllenden Charakter und bleiben erhalten, weil sie eine Kraft in sich tragen, die nicht enttäuscht werden kann. Erfüllung ist die Erfahrung von Fülle. Darin ist das Wünschen Weltmeister.

Lange hatte ich – ohne es zu wissen – Angst davor, die Wünsche könnten sich erfüllen. Ich hatte Angst vor der Verantwortung. Doch auch das hat sich inzwischen geändert, weil ich verstanden habe, dass das Wünschen, das ich meine, immer aus der Verbindung mit anderen entsteht, ich also nie allein damit bin. Zu denken, dass man einen solchen Wunsch allein zu schultern hätte, wäre größenwahnsinnig und würde sofort leerlaufen. Seit ich mich in der Wunschpraxis übe, weiß ich, dass mein Beitrag zu einer solidarischen Welt begrenzt ist, aber ich denke nicht mehr, dass ich deswegen meinen Wunsch begrenzen muss. Ich mache mich zum Teil der Wunschbewegung, bleibe luzide und stur, also durchlässig für Änderungen in der Wunschrichtung, aber weitgehend unbeirrbar in der Wunschkraft.

Meine Erfahrung der vergangenen Jahre ist, dass die positive Energie eines offensiven und gleichermaßen verkörperlichten wie welthaltigen Wünschens, das sich als Praktik transparent macht, so ansteckend ist, dass von allen möglichen Seiten Unterstützung kommt. Man trifft dann plötzlich auf lauter Menschen, die denselben Wunsch realisieren oder nur darauf warten, mit zu wünschen, und nicht mehr allein darüber verzweifelt sein müssen, dass die eigenen Möglichkeiten begrenzt sind.

Das Wünschen hat mein Leben verändert, meinen Freundeskreis, meinen Beruf, mein Weltbild. Wunschlos wäre ich inzwischen unglücklich, zu schön sind die geteilten Erfahrungen, zu magisch ist die Wirkung. Und wenn ich mir die politische Situation gerade so anschaue, dann ist ziemlich eindeutig: Es bleibt viel zu wünschen übrig.

Annika Reich, 1973 geboren, ist Schriftstellerin und Aktivistin. Ihre Romane und Kinderbücher erscheinen im Hanser Verlag. Seit 2015 ist sie Künstlerische Leiterin von "Wir machen das" und "Weiter schreiben". Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8".


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