Fünf vor 8:00: Wenn Regeln nichts mehr gelten, ist die EU am Ende - Die Morgenkolumne heute von Mark Schieritz

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.
 
 
 
   
 
 
 
FÜNF VOR 8:00
26.10.2018
 
 
 
   
 
Wenn Regeln nichts mehr gelten, ist die EU am Ende
 
Trotz manch sinnvoller Vorschläge erschüttern die Italiener mit ihren Schuldenplänen die Grundfesten der Europäischen Union. Deshalb kann Brüssel nicht nachgeben.
VON MARK SCHIERITZ
 
   
 
 
   
 
   

Wer hat das wohl gesagt: Die Europäische Kommission müsse "daran interessiert sein, dass die Wirtschaft wächst". Deshalb müssen die Defizitregeln "flexibel" interpretiert werden.
 
Luigi Di Maio, der stellvertretende italienische Ministerpräsident?
 
Matteo Salvini, der Innenminister des Landes, das deutlich mehr Schulden machen will, als es der europäische Stabilitätspakt erlaubt?
 
Es war Gerhard Schröder, Kanzler der Bundesrepublik Deutschland. Schröder hat diese Aussage im Jahr 2003 getätigt, da hat nämlich Deutschland mehr Schulden gemacht, als es der europäische Stabilitätspakt erlaubt. Und genau wie Di Maio und Salvini heute hatte auch Schröder keine Lust, Staatsausgaben zu kürzen, um das Haushaltsdefizit zu verringern.
 
Ich erinnere mich noch sehr gut an die damaligen Diskussionen. Ich habe damals für die Financial Times Deutschland gearbeitet, und wir waren im Prinzip Schröderianer. Die rot-grüne Koalition hatte weitreichende Reformen auf den Weg gebracht, die der Bevölkerung einiges abverlangten und die Konjunktur belasteten. Eine harte Sparrunde, die das Wirtschaftswachstum noch stärker heruntergebremst und die Wähler endgültig gegen die Regierung aufgebracht hätte, erschien uns ökonomisch und politisch unsinnig.
 
Nur ein Kollege – Thomas Klau, der Brüsseler Korrespondent der Zeitung – hielt Schröders Vorstoß für gefährlich. Er argumentierte, wenn die Regeln gebrochen würden, dann drohe das gesamte europäische Projekt an Glaubwürdigkeit zu verlieren.

In diesen Tagen muss ich oft an Thomas Klau denken. Denn klar ist: Ob das italienische Defizit in diesem Jahr nun bei 1,6 oder bei 2,4 Prozent der Wirtschaftsleistung liegt, spielt ökonomisch betrachtet so gut wie keine Rolle. Wir sprechen hier über einen Betrag von etwa zehn Milliarden Euro. Das macht bei einem Schuldenberg von über 2.000 Milliarden Euro den Kohl auch nicht fett. Man kann auch argumentieren, dass das von der Regierung geplante Grundeinkommen keine ganz dumme Idee ist. Das Land verfügt schließlich bislang über kein funktionierendes soziales Absicherungssystem, und was jetzt eingeführt werden soll, ist dem deutschen Hartz-IV-Modell nicht unähnlich.
 
Hinzu kommt: Bei einer Arbeitslosenquote von fast zehn Prozent ist ein fiskalpolitischer Impuls konjunkturell betrachtet womöglich nicht ganz verkehrt. Es ist nämlich nicht so, dass die Italiener das Geld aus dem Fenster hinauswerfen, wie in Deutschland oft zu lesen ist. Das Land hat in den letzten Jahren zumeist äußerst sparsam gewirtschaftet, es schleppt aber einen riesigen Schuldenberg aus der Vergangenheit mit sich herum und die Zinsausgaben verschlingen eine Menge Geld.
 
Mit anderen Worten: Wer damals Verständnis für Schröder aufbrachte, muss eigentlich heute auch Verständnis für Di Maio und Salvini aufbringen.
 
Das Problem ist nur: Die Glaubwürdigkeit der Regeln nimmt dadurch noch mehr Schaden. Und das birgt – wie mein Kollege Thomas Klau damals richtig erkannt hat – für das europäische Projekt eine erhebliche Gefahr. Denn die EU ist kein Superstaat mit einem zentralisierten Gewaltmonopol, am Ende wird sie durch Regeln zusammengehalten.
 
"Was Brüssel sagt, ist mir egal"
 
Und wenn Regeln nichts mehr gelten, dann ist Europa am Ende. Denn dann werden irgendwann auch andere, für das europäische Selbstverständnis noch viel wichtigere Vorschriften infrage gestellt werden: Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Demokratie. In Polen oder Ungarn jedenfalls beobachtet man sehr genau, ob die Italiener mit ihren Defizitplänen durchkommen. Nach dem Motto: Wenn ihr mehr Schulden machen dürft, dann dürfen wir auch unabhängige Richter absetzen.
 
Damit ist das Problem beschrieben, aber wie sehen mögliche Lösungen aus? Die radikalen Lösungsvarianten bestehen darin, entweder die EU abzuwickeln oder den Nationalstaat durch einen europäischen Bundesstaat zu ersetzen. Ersteres kann niemand wollen, der auch nur über einen Funken historischen Bewusstseins verfügt und letzteres ist politisch nicht durchsetzbar.
 
Also muss der Wunsch nach nationaler Selbstbestimmung mit den europäischen Standards in Einklang zu bringen sein. Das ist gerade beim Thema Defizit im Prinzip auch möglich. Der Stabilitätspakt ist längst nicht mehr so rigide, wie er es zu Schröders Zeiten war, und mit gutem Willen auf beiden Seiten konnte bislang immer ein Kompromiss gefunden werden. Die Sache ist nur, dass die italienische Regierung an einem solchen Kompromiss bislang kein Interesse zu haben scheint. Für sie ist der Regelverstoß eine Art Unabhängigkeitserklärung, oder wie es Salvini formulierte: "Was Brüssel sagt, ist mir egal."
 
Solange er solche Sätze sagt, muss die Kommission hart bleiben, auch wenn das in letzter Konsequenz dazu führen könnte, dass Italien wieder seine eigene Währung einführt. Das bedingungslose Beharren auf nationaler Souveränität verträgt sich nicht mit der Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, deren Organisationsprinzip die Einschränkung eben jener nationalen Souveränität ist – beziehungsweise ihre Umwandlung in eine höhere, europäische Souveränität.
 
Wenn in Rom versöhnlichere Töne angeschlagen werden, dann sollte man allerdings reden.
 

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

DER STANDARD Italien mobilisiert gegen "Versklavung"
NEW YORK TIMES Italy Is in Trouble With the E.U. Here’s Why the World Should Care.

 
   
 
   
ANZEIGE
 
 
 
 
Nur für Newsletter-Abonnenten
 
   
 
   
SERIE
 
 
 
 
FÜNF VOR 8:00
Die Morgenkolumne auf ZEIT ONLINE
 
 
Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.