Donald Trumps Friedensappelle hielten keine 24 Stunden. Nur für einen Moment nach dem mörderischen Anschlag eines weißen Rechtsextremisten auf Besucher einer Synagoge in Pittsburgh und im Angesicht der zwölf Briefbomben, die ein Trump-Fanatiker an elf politische Gegner des Präsidenten verschickt hatte, rief Trump die Amerikaner auf "zueinanderzufinden". Nur einen kurzen Augenblick sprach er so, wie es sich für ein Staatsoberhaupt gehört.
Doch die Rolle des Versöhners liegt ihm und behagt ihm nicht. Darum tat er postwendend wieder das, was er am liebsten tut und wofür er sich nicht verstellen muss: aufhetzen und spalten. Trump eilte in den Wahlkampfring und keilte wie üblich wütend aus – gegen seine Kritiker, gegen die ihm verhassten liberalen Medien, gegen die oppositionellen Demokraten. Letztere beschuldigte er – zumindest zwischen den Zeilen –, sich über den Briefbomber klammheimlich zu freuen und die Tatsache, dass der mutmaßliche Täter ein Republikaner und Trump-Anhänger ist, im Wahlkampf auszuschlachten.
In einer Woche werden in den Vereinigten Staaten sämtliche 435 Abgeordneten sowie 35 der insgesamt 100 Senatoren und Senatorinnen neu gewählt. Doch es dreht sich bei dieser Wahl nicht allein darum, welche Partei am Ende das Repräsentantenhaus und den Senat gewinnt, Republikaner oder Demokraten. Es steht am 6. November viel mehr auf dem Spiel: die Zivilität der politischen Klasse und der amerikanischen Gesellschaft, kurzum: die Zukunft der abgrundtief gespaltenen Nation.
Die Vereinigten Staaten waren schon immer unvereinigt. Bis aufs Blut und unter gewaltigen Opfern stritten ihre Bürger zum Beispiel über die Unabhängigkeit von Großbritannien, über die Fundamente der Verfassung, über die Abschaffung der Sklaverei und der Rassenungleichheit, über die Zahl und Herkunft der Einwanderer, über die vielen Kriege.
Familiäre Schweigepflicht
Aber irgendwie fanden die Amerikaner trotzdem immer wieder zusammen, auch weil die Parteien, weil die meisten Politiker und vor allem weil auch die im Weißen Haus regierenden Präsidenten Brücken zu schlagen wussten.
Doch der Firnis der Gesellschaft ist dünn, der Zusammenhalt wird immer brüchiger. Republikaner und Demokraten, Liberale und Konservative, Linke und Rechte haben immer weniger Berührungspunkte. Sie leben in getrennten Welten und wohnen vorzugsweise dort, wo sie in ihrer Nachbarschaft auf möglichst viele Gleichgesinnte treffen. Die meisten Amerikaner haben immer weniger Verständnis, Toleranz und Geduld für Andersdenkende. Und die Mehrheit sagt heute, sie hätte ein großes Problem damit, wenn eines ihrer Kinder einen Sohn oder eine Tochter aus einer Familie heiraten würde, die politisch anders ticke.
Längst hat die Polarisierung das Privatleben erfasst. So verordneten sich zum Beispiel nach Trumps Wahl etliche Familien eine Schweigepflicht während des traditionellen Thanksgiving-Fests. Über dem Truthahnbraten sollte im Kreise der Verwandtschaft nicht über Politik geredet werden, die Angst vor einem unheilbaren Zerwürfnis war zu groß.
Diese dramatische Zuspitzung liegt nicht nur, aber doch zu einem großen Teil an Donald Trump. Denn der 45. Präsident ist Amerikas oberster Hetzer. Man muss es an dieser Stelle einmal deutlich sagen: Trump ist ein Aufwiegler, ein Zerstörer, er hat schlichtweg einen schlechten Charakter.
Trumps Hass verschafft ihm Wählerstimmen
Wie sonst lässt sich erklären, dass er sich in aller Öffentlichkeit auf menschenverachtende Weise über ein mutmaßliches Vergewaltigungsopfer lustig macht. Dass er unverhohlen Sympathien für einen republikanischen Abgeordneten äußert, der mit der Faust einen Journalisten des britischen Guardian niederstreckte und dafür bestraft wurde. Oder dass er kritische Medien zu "Feinden" erklärt.
Trump treibt mit seinem Hass die Spaltung der Gesellschaft wissentlich und willentlich voran. Denn aus dieser Spaltung zieht er seine Kraft, sie verschafft ihm Wählerstimmen, auf ihr gründet er seine Macht.
Deshalb kommen ihm jetzt auch die mittelamerikanischen Flüchtlinge und Migranten zupass, die zu einigen Tausend in Richtung Vereinigte Staaten marschieren, bieten sie ihm doch rechtzeitig zur Wahl neuen Anlass für Hasstiraden und Verschwörungstheorien.
So behauptet Trump ohne einen Beweis, hinter dieser sogenannten Karawane steckten linke Strippenzieher und Geldgeber aus dem Umkreis des venezolanischen Präsidenten. Und er warnt – wieder ohne Beweis –, mit den Flüchtlingen und Migranten kämen viele Kriminelle aus Lateinamerika und gar einige Terroristen aus dem Nahen Osten in die Vereinigten Staaten. Zum Schutz plant er darum, 800 Soldaten an die mexikanische Grenze abzukommandieren.
Eine "Karawane" als Wahlkampfgeschenk
Bereits im Wahlkampf 2016 schürte Trump die Angst vor Immigranten – und wurde Präsident. Knapp 63 Millionen Amerikaner gaben ihm damals ihre Stimme. Die detaillierteste Studie über diese Wähler und ihre Motive stammt aus der Feder von Emily Ekins, der Leiterin der Meinungsforschungsabteilung der libertären Washingtoner Denkfabrik Cato.
Nach einem ausgeklügelten System befragte sie 8.000 Trump-Wähler und kam zu dem Schluss, dass sich Trumps Wählerschaft im Großen und Ganzen aus fünf Gruppen zusammensetzt: aus den "eisernen Konservativen", die im Kern eingefleischte, langjährige Republikaner sind; aus den "freien Marktwirtschaftlern", den "Anti-Elitären" und den keiner spezifischen Gruppe zuzuordnenden "Freischwebenden"; und aus den "Bewahrern", zu denen vornehmlich jene zählen, die das weiße, christliche Erbe Amerikas schützen wollen. Diese letzte Gruppe, so Ekins, sei in vielen Staaten des Mittleren Westens das Zünglein an der Waage gewesen und habe den Ausschlag für Trumps Sieg gegeben.
So unterschiedlich diese fünf Gruppen, ihre Biografien, Typologien und Beweggründe auch sind, schlussfolgert Ekins, fast alle verbindet eine gemeinsame Sorge: die Angst vor dem demografischen und kulturellen Wandel Amerikas. Denn anders als nach Trumps Wahl zunächst gemutmaßt fürchteten sich seine Anhänger nicht in erster Linie vor einem ökonomischen Niedergang, sondern vor allem davor, als Weiße in ihrem Land in die Minderheit zu geraten.
Identity trumps economy – die Erkenntnis, dass die Sorgen um die eigene Identität schwerer wiegen als wirtschaftliche Argumente, gilt nach wie vor – und Donald Trump versteht sie meisterhaft für sich zu nutzen. Die "Karawane" aus Mittelamerika ist darum ein Wahlkampfgeschenk für ihn.