10 nach 8: Azade Pesmen über Alltagssexismus

 
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15.10.2018
 
 
 
 
10 nach 8


Die Straße gehört mir – eben nicht
 
Im deutschen Alltag werden nichtweiße Frauen angegrapscht und angemacht. Vor allem aber werden sie zurechtgewiesen von Männern, die sich als Sheriffs aufspielen.
VON AZADÊ PEŞMEN

Eine Radfahrerin an der Oberbaumbrücke in Berlin © Björn Grochla/unsplash.com
 
Eine Radfahrerin an der Oberbaumbrücke in Berlin © Björn Grochla/unsplash.com
 
 

Es ist ein Widerspruch, den ich wie wohl die meisten nichtweißen Menschen durchlebe: In Deutschland muss ich ständig mein Deutschsein rechtfertigen, aber sobald ich im Ausland bin, werde ich automatisch zur Botschafterin Deutschlands. Das bedeutet dann viel Erklärungsarbeit und das Entzerren und Dekonstruieren diverser Vorstellungen, die mit Deutschland und den Deutschen zu tun haben. Zum Beispiel muss ich immer wieder betonen, dass nicht allen Menschen in und aus Deutschland Takt- und Rhythmusgefühl fehlen. Dass in diesem Land nicht Milch und Honig fließen, das ist den meisten Menschen außerhalb der europäischen Festung bekannt. Dass Geflüchtete – um es freundlich auszudrücken – nicht zur beliebtesten Gruppe gehören, auch. So weit, so einfach.

Den meisten Frauen fällt aber die Kinnlade herunter, wenn ich die hartnäckigste aller Seifenblasen platzen lasse und sage: Nein, der öffentliche Raum im Allgemeinen, Deutschlands Straßen im Besonderen sind nicht sicher. Zumindest nicht für Frauen. Und noch weniger für  Frauen of Color, schwarze Frauen, Queers und andere Personen, die aus unterschiedlichen Gründen diskriminiert werden.

Wer sich schützt, tut dies, weil eine Gefahr lauert. Wenn ich von Räumen der Unsicherheit spreche, dann meine ich ausnahmsweise mal keine Hetzjagden wie in Chemnitz, deren Neuigkeit noch zu überprüfen wäre, sondern den ganz normalen, urbanen Wahnsinn. Vor allem, wenn Frau sich herausnimmt, diese Wege allein zu bestreiten, ohne männliche Begleitung, die als potenzielle Respektsperson wahrgenommen wird, beispielsweise ein Bruder oder fester Freund. 

Vor wenigen Wochen dominierte ein Facebookpost meine Timeline, eine Tabelle bestehend aus zwei Spalten mit Angaben darüber, was Männer (linke Spalte) und was Frauen (rechte Spalte) tun, um für ihre eigene Sicherheit zu sorgen. Spoiler: Die linke Spalte war ziemlich leer. Die rechte voller Maßnahmen, die Frauen treffen (müssen), um zumindest die Wahrscheinlichkeit, sich sicher durch den Stadtraum zu bewegen, halbwegs hoch zu halten: den Drink niemals aus den Augen verlieren, dabei zusehen, wie er zubereitet wird, Schlüsselbund zwischen die Finger klemmen, um sich im Falle des Falles wehren zu können und so weiter. 

Selbst wer sich akribisch daran hält, darf sich einer sicheren Fahrt nicht sicher sein. In der U-Bahn gibt es trotzdem immer wieder Männer, die einen begrapschen (während alle anderen dabei zusehen und nichts sagen, so viel Anstand und Zivilisation muss sein). Deshalb könnte man meinen, es ließe sich im öffentlichen Stadtraum besser aushalten, wenn man auf dem Fahrrad unterwegs ist. Aber: Wer Fahrrad fährt, kommt an roten Ampeln nicht vorbei und ein Anhalten und Absteigen ist eine weitere potenzielle Gelegenheit für die nächste übergriffige Handlung. An den Hintern fassen zum Beispiel.

Es sind aber nicht nur körperliche Übergriffe und sexualisierte Gewalt, gegen die Frauen versuchen, präventiv vorzugehen. Der öffentliche Raum ist auch eine Spielwiese für Möchtegern-Sheriffs, die den kleinen jungen Mädchen, die zu Fuß oder auf dem Rad unterwegs sind, gern mal zeigen möchten, wie man sich richtig in der Öffentlichkeit zu verhalten hat. Eine Maßnahme, die wahrscheinlich vor allem dazu dient, das eigene Ego aufzuwerten und sich wichtig zu fühlen. Anderen Menschen zu sagen, wie sie sich zu verhalten haben, wie sie sich hier zu verhalten haben ("Das kannst du gerne dort machen, wo du herkommst, aber wir in Deutschland ..."), hat nicht nur den Beigeschmack einer in arroganter Überheblichkeit getränkten Zivilisierungsmission, sondern ist vor allem ein Zeichen von entitlement: die unhinterfragte Berechtigung, mit der einige Menschen sich selbst gesegnet sehen, sich aktiv in das Leben anderer einmischen zu dürfen. Gern im rechthaberischen, belehrenden Tonfall. Das ist gut für den Mann, dann kann er auch endlich mal Dampf ablassen.

Und zum Beispiel "LICHT AN!" brüllen, obwohl es vorn am Fahrradlenker sehr wohl leuchtet. Aber zu entitlement gehört auch, dass der Horizont nur bis zur eigenen Tapete der Unfehlbarkeit reicht. Bei all solchen Ratschlägen und Kommentaren, um die niemand gebeten hat, ist eine Sache äußerst wichtig: duzen. Und besonders langsames und deutliches Sprechen natürlich. Wie bei kleinen Kindern, die man nicht ernst nimmt, dann fällt die Grenzüberschreitung auch leichter. Und es braucht eine niedrige Hemmschwelle, um einer Frau die Kopfhörer herunterzureißen und sie anzubrüllen. Keine Frage, es ist wichtig, im Straßenverkehr aufmerksam zu bleiben, aber gerade wenn man sieht, dass die Person offensichtlich nichts hört oder in Gedanken vertieft ist, muss man sie nicht gleich zu Tode erschrecken.

Das umgekehrte Szenario ist schwer vorstellbar. Einer Frau käme es nie in den Sinn, einen Mann auf dem Rad anzuhalten und ihm zu sagen, dass die Musik, die er hört, zu laut ist. Ich hingegen werde darüber belehrt, dass ich bei einer geringeren Lautstärke auch gehört hätte, dass meine auf dem Gepäckträger befestigte Jacke auf dem Boden schleift. Aus Erfahrung (drei meiner Jacken sind so zugrunde gegangen) weiß ich, dass dieser Vorgang recht geräuschlos abläuft. Davon abgesehen muss ich die Musik so laut aufdrehen, um zu übertönen, wie ein Mann mir aus dem Nichts "geile Titten", "Schlampe" oder "hässliche Fotze" entgegenruft. Das letzte Mal, als ich gänzlich ohne Musik auf den Ohren Fahrrad fuhr, zeigte einer (und hinter ihm sieben weitere) auf meinen Schritt und fragte, linguistisch zweifelhaft, aber in der Intention eindeutig: "Do you got room for eight?".

Ich höre also weiterhin laute Musik beim Fahrradfahren, und zwar so lange, bis der belehrende, adultistische Alltagssexismus mit Koloniallehre insgesamt etwas leiser wird.


Azadê Peşmen ist Journalistin, Spoken-Word-Künstlerin und Tänzerin. Sie lebt und arbeitet in Berlin. Aus Sicherheitsgründen achtet sie darauf, dass es keine Bilder von ihr im Netz gibt. Sie ist Gastautorin von ''10 nach 8’’.
 


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10 nach 8
 
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