Es gibt kein falsches Lesen im RichtigenDie Buchbranche klagt über Leserschwund. Und viele Menschen hören von Literatur nur noch dann, wenn ein Gedicht auf einer Hauswand übermalt wird. Ach, muss das so sein? VON MELY KIYAK |
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Gleich vorne im Eingangsbereich, wo der "Elektronische Stichheiler" und das "Massage-Ufo" verkauft werden, in der wundersamen "Ideenwelt" der Drogeriekette Rossmann, wo alle Waren, egal wofür oder wogegen, preislich immer auf 99 Cent enden, steht es stolz und aufrecht und kostet zwanzig Euro glatt. Die Frankfurter Buchmesse wird ausgerechnet im Rossmann, dem Breuninger des kleinen Mannes, eingeläutet. Die große Dirk-Rossmann-Biografie, die vom "Aufstieg, Mut und Wandel" eines der größten deutschen Unternehmer erzählt, wurde im Entrée platziert, dem wichtigsten Bereich eines Geschäfts, wenn das Portemonnaie noch locker sitzt, weil die schlechte Luft einen noch nicht matt gepustet hat. Der Erscheinungstermin dieser publizistischen Überraschung wurde so gelegt, dass noch Zeit war, vor der Messe auf das Buch aufmerksam zu machen. Das Magazin Der Spiegel führte bereits ein Gespräch mit dem Unternehmer und Buchautor, RTL berichtete auch, Bild, Stern, pipapo, und ergo steht das Buch bei Amazon auf Platz eins in den Kategorien Personalmanagement, Wirtschaftsethik und Finanzwirtschaft. Ob Degeto (Heiner Lauterbach als die Person Rossmann und Veronika Ferres als Drogerie Rossmann) verfilmen wird, ist noch nicht bekannt. Das Thema dieser Kolumne ist übrigens die Buchmesse und nicht der Drogist. Aber man kann ja nun auch nichts dafür, dass man durch die Straßen läuft und die Frankfurter Buchmesse, die bekanntlich die größte Buchmesse der Welt ist, im öffentlichen Straßenbild nicht wiederfindet. Wenn Sexmesse ist, plakatieren sie geile milfs. Bei Buchmesse aber sucht man geile bilfs auf den Litfaßsäulen vergeblich. Dann geht man eine Packung Taschentücher kaufen und trifft seit Langem einmal wieder auf ein Buch. An dieser Stelle steht jedes Jahr zur gleichen Zeit, nämlich wenn Buchmesse ist, eine Klage darüber, dass die Literatur trotz Hunderttausend Neuerscheinungen jährlich keine angemessenen Formate im Fernsehen findet. Früher gab es das Literarische Quartett mit Sigrid Löffler, Marcel Reich-Ranicki und Hellmuth Karasek, plus einem Gast. Die Sendung dauerte 75 Minuten, vier Bücher wurden besprochen. Man sprach über die Struktur eines Textes, über Sprache, Syntax, über seine Musikalität, also über alles das, was übrig bleibt, wenn man die Handlung eines Buches beiseitelässt. Man sprach darüber, weil man es konnte, weil man wusste, wie man es anstellen muss. Natürlich wurden Autor und Werk eingeordnet, gesellschaftliche, politische, historische Kontexte erläutert. Das gleiche gab es übrigens auch für bildende Kunst und hieß Bilderstreit. Dessen Reich-Ranicki war Bazon Brock. Es fehlt einem alles, und man will es wiederhaben, am besten noch ein Dramatisches Quartett obendrauf, das aktuelle Inszenierungen bespricht. "Ich mochte das Buch" Heute gibt es auch ein Literarisches Quartett im Zweiten Deutschen Fernsehen, vier Bücher in 45 Minuten. Im Wesentlichen wird dort die Handlung minutenlang nacherzählt. Früher wurden einfach Genre und Gattung benannt. Fertig. Man bildete den Fernsehzuschauer en passant, indem man die richtigen Begriffe verwendete und die Kategorien heranzog, die der Literaturwissenschaft zur Verfügung stehen. So erzog das ZDF Generationen von Mitkritikern. In der Sendung heute sitzt diese eine Kritikerin und sagt immer Sätze wie: "Ich mochte das Buch", oder "Ich mochte, dass die beiden Liebenden sich am Ende der Geschichte bekommen haben". Ganz oft aber sagt sie: "Ich will nicht zu viel verraten, sonst geht die Spannung verloren." Anschließend werden Punkte verteilt. Die Verlage drucken in den Nachauflagen der besprochenen Bücher dann Stempel, auf denen steht: "4:0 beim Literarischen Quartett." Man schämt sich in Deutschland vor gar nichts mehr. Die einzige deutschsprachige Literatursendung, die noch etwas taugt (abgesehen vom seltenen lesenswert quartett vom SWR, das nur zweimal jährlich tagt), kommt natürlich nicht aus Deutschland, sondern vom Schweizer Fernsehen und heißt Literaturclub. Der wird zwar von einer Deutschen moderiert, die auch ständig mag und findet, aber geschenkt! Dafür sind die anderen immer sehr belesen und kennen die richtigen Begriffe. Alle Jubeljahre sitzt Elke Heidenreich mit in der Runde und diskutiert im Stil einer Dorothy Parker, und wie immer eigentlich, wo es um die Kunst des Urteils geht, landet man bei Gesellschaftskritik. Man spricht über das Leben, über Typen, Figuren, also über all das, wofür man keine Handlung braucht. Kommt die Feuerwehr? Jedenfalls haben die Branchendienste wieder Leserschwund vermeldet. Dem deutschen Buchmarkt sind in den vergangenen Jahren sechs Millionen Leser flöten gegangen, und man versteht, warum. Es gibt niemanden mehr, der regelmäßig, ausführlich und gekonnt die Bedeutung von Literatur spiegelt. Früher gab es dafür auch einmal so jemanden wie Harald Schmidt, der sich Karl Ignaz Hennetmair einlud oder mit Benjamin von Stuckrad-Barre den Bernhardschen Hosenkauf nachspielte. Schmidt zelebrierte genüsslich seinen Literaturenthusiasmus, wohlwissentlich, dass er damit nur noch einen Bruchteil seiner Zuschauer begeistern konnte. Neulich erst erzählte er wieder, dass er zum Schluss auch deshalb gescheitert war, weil es kein Bildungsbürgertum mehr gegeben hätte. Es leuchtet einem sofort ein. Um sich über die komplette Verjuxung eines Heraklit zu zerömmeln, muss man andeutungsweise wissen, um wen es sich handelt. Wo bitteschön gibt es denn noch einen Kabarettisten oder Comedian, der liest und das in sein Programm reinrieseln lässt? Die meisten Leute bekommen die Existenz eines Gedichtes nur noch dann mit, wenn es auf einer Hauswand überpinselt wird. Ja, das hier ist auch eine Kulturkritik und sie handelt nicht davon, dass die Leute doof sind, sondern Lust daran haben, doof zu bleiben. Damit ist nicht gemeint, dass sie das Falsche lesen, sondern gar nicht lesen. Es gibt kein falsches Lesen im Richtigen. Deshalb bitte keine Scham, wer will, greife auch zu Rossmanns ... dann bin ich auf den Baum geklettert, so der Titel seines Werkes, um gleich einmal eines der wichtigsten Elemente einer guten Erzählung zu kennzeichnen: den Spannungsbogen. Denn man fragt sich unweigerlich, wie es nach dem Cliffhanger weitergeht. Bleibt er oben, wird er von der Feuerwehr runtergeholt, oder hat er ein Akku-Bartschneider-Set dabei und kann gepflegt vom Baum aus sein Drogerieimperium aufbauen? Man will nicht zu viel verraten, sonst geht die Spannung verloren, nur so viel: Man mochte es alles sehr. Bitte lesen Sie Bücher! Lesen kostet Geld und Zeit. Sie werden es nicht bereuen.
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