»Die Senioren schämen sich zu sehr« »Kulturistenhoch2« zählt zu den drei Hamburger Preisträgern des Wettbewerbs
»Ausgezeichnete Orte im Land der Ideen« (mehr dazu
hier), die gestern im Rathaus empfangen wurden. In Zeiten wachsender Altersarmut ermöglicht der Verein Senioren, die nur eine geringe Rente beziehen, kostenlose Besuche von Kulturveranstaltungen – gemeinsam mit Oberstufenschülern. Wir haben mit der Initiatorin
Christine Worch gesprochen.
Elbvertiefung: Frau Worch, Sie verkuppeln Schüler mit Senioren, die dann gemeinsam ins Theater oder ins Museum gehen. Wie kam es zu der Idee?Christine Worch: Nachdem mein dementer Vater 2010 gestorben war, wollte ich mein Marketing- und Vertriebs-Know-how sozialen Projekten zur Verfügung stellen. So habe ich
KulturLeben Hamburg kennengelernt, die Tickets von rund 200 Veranstaltern einsammeln und an ältere Menschen mit kleiner Rente verteilen. Gerade die sagen oft: Dat geiht nich, ich habe niemanden, der mich begleiten kann! Worauf ich mir gedacht habe: Da machen wir was draus.
EV: Wie kamen Sie auf den Trick, dass die Senioren die Jugendlichen einladen und dadurch das Gefühl der Armut vermeiden?Worch: Wir schaffen Augenhöhe und das Gefühl: Ich habe was zu bieten. Denn wenn man niedergedrückt ist durch ständiges Sparenmüssen, verliert man das Selbstbewusstsein. Umgekehrt bekommen die Jugendlichen ein bisschen Spendengeld mit und laden den älteren Menschen in der Pause auf eine Brezel ein.
EV: Wie bringen Sie die Jugendlichen dazu, mitzumachen?Worch: Schwieriger ist es, die Senioren zu finden! Dafür schämen sie sich zu sehr. Dabei haben sie was zu bieten, nämlich ihre Lebenserfahrung. Danach lechzen die Jugendlichen. Deren Großeltern leben oft in Hintertupfingen, weshalb die Schüler sagen: Wir können gar keine Beziehung zu alten Menschen aufbauen, dabei wollen wir Geschichten von früher hören.
EV: Wieso müssen die Jugendlichen vorher lernen, wie man sich als alter Mensch bewegt?Worch: Die Paare sind mit öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs, wir müssen gewährleisten, dass das klappt. Deshalb schlüpfen die Schülerinnen und Schüler im Hartwig-Hesse-Quartier, wo viel gerontologisches Know-how vorhanden ist, in einen Simulationsanzug, der ihre Bewegungen etwas erschwert, und fahren von St. Georg bis zum Hauptbahnhof. Und dann noch zum Einkaufen bei Edeka, wo sie merken, wie das ist, an der Kasse zu stehen und das Geld nicht aus dem Portemonnaie zu kriegen.
EV: Über die Hälfte der Schüler hat einen Migrationshintergrund. Ist das Zufall oder Absicht?Worch: Teils, teils. Wir sehen in der Statistik nach, wo Altersarmut besonders häufig auftritt. Dort suchen wir dann Partnerschulen. Meistens haben dort auch viele einen Migrationshintergrund, etwa in Horn, Rahlstedt oder Steilshoop. In Eidelstedt müssen viele Jugendliche zum Familieneinkommen beitragen und sind dennoch bei uns im Projekt. Vor allem im Kosovo oder in Afghanistan leben die Menschen viel enger mit ihren Familien zusammen.
EV: Wie viele Paare haben Sie miteinander verkuppelt?Worch: Wir haben 389 Begleitungen organisiert, indem wir zum Beispiel die Schüler in der Steilshooper WhatsApp-Gruppe fragen, wer mit Frau Müller-Schulze zu »Aida« gehen will. Wir sagen den Senioren aber auch, dass sie ihr Herz nicht an jemand Bestimmten hängen dürfen, der dann im nächsten Jahr vielleicht zum Studieren die Stadt verlässt. Aber wenn Frau Müller-Schulze sagt, dass die Sandra besonders nett war, dann morsen wir die wieder an. Ein Tandem trifft sich bis heute, obwohl das Mädchen längst studiert.