Vor acht Tagen habe ich in dieser Kolumne über den grausigen Fall Kashoggi geschrieben und angeregt, unsere Beziehungen zu dem saudischen Gewaltregime zu überdenken. Worauf der Leser "Gullischacht" mir in einem Kommentar vorwarf, diese Erkenntnis hätte mir schon viel früher kommen sollen, "zu denen, die immer über alles hinwegsehen haben ... zählt anteilig auch ein Herr Sommer".
Lieber Herr Gullischacht: Da ist bei Ihnen einiges durch den Rost gefallen. Mein Gedächtnis, auf jeden Fall aber mein Archiv, ist da besser als das Ihre. Hier ein Auszug aus meine 5vor8-Kolumne vom 20. Januar 2015:
"Die Saudis haben das Monster des Salafi-Terrorismus geschaffen. Jahrelang wurde ihre Geistlichkeit mit einer fundamentalistisch-aggressiven Lesart des Islam gefüttert, die sie dann weltweit propagierten. Sie finanzierten überall die Verteilung des Korans, den Bau von Moscheen, die Einrichtung von Koranschulen, die Entsendung orthodoxer Imame. Ihr puritanischer Wahabismus wurde zur Nährmutter des terroristischen Salafismus.
Saudi-Arabien ist eine Sklavengesellschaft; neun Millionen schikanierter, gedemütigter, rechtloser Gastarbeiter, zum größten Teil aus dem indischen Subkontinent, haben elf Millionen Saudis ihren Staat aufgebaut und halten ihn am Laufen. Und wenn wir uns – zu Recht – über die Enthauptungspraxis des "Islamischen Staates" erregen, sollten wir nicht minder lautstark die öffentlichen Enthauptungen in Saudi-Arabien anprangern anprangern: 87 im vergangenen Jahr; am vorigen Freitag wurde Murdi al-Shakra öffentlich geköpft – schon der zehnte in diesem Jahr. Auch sonst sind die Strafen barbarisch. Zwei Frauen, die es wagten, Auto zu fahren, wurden kürzlich vors Anti-Terror-Gericht gebracht. Und der 30-jährige Blogger Raif Badawi ist wegen Beleidigung des Islams zu zehn Jahren Gefängnis und tausend Peitschenhieben verurteilt worden. Die Prügel sollen ihm in wöchentlichen Raten von 50 Stockschlägen verabreicht werden, was nichts anderes ist als Tötung auf Raten. Die vielen Proteste hatten immerhin die Wirkung, dass die zweite Auspeitschung erst einmal ausgesetzt wurde.
Solange die saudische Geistlichkeit nicht endlich das intellektuelle Unterfutter des Dschihadismus gründlich ausmistet, und dies bald, sollte der Westen gegenüber Saudi-Arabien einen neuen Ton anschlagen. Und die Bundeskanzlerin, die eine "Klärung" der Haltung Riads zu Menschenrechtsfragen dringlich angemahnt hat, sollte über alle Zweifel erhaben klar machen: Der saudische Islam gehört nicht zu Deutschland."
"Außenpolitisches Abenteurertum"
Soweit meine Anmerkungen von 2015, ich habe dem heute nichts hinzuzufügen. Die Hoffnungen, die auch ich auf den Kronprinzen Mohammed Bin Salman gesetzt hatte, waren schon vor der brutalen Ermordung des Regimekritikers Jamal Kashoggi im saudi-arabischen Generalkonsulat von Istanbul mehr und mehr verflogen. Raif Badawi sitzt weiterhin im Gefängnis. Dort landeten letzthin auch Hunderte von Akademikern, Schriftstellern, Bloggern und anderen missliebigen Freigeistern. Der Kronprinz erlaubte Frauen das Autofahren und den Besuch von Sportstadien, aber brachte die Aktivistinnen, die sich dafür eingesetzt hatten, ins Gefängnis. Er verkündigte einen gemäßigten Islam, doch sperrte die Reformprediger ein.
Er sagte der Korruption den Kampf an und setzte über 200 saudische Geschäftsleute und Beamte, darunter auch eine Reihe Prinzen aus dem Hause al-Saud, ohne jegliches rechtsstaatliche Verfahren im Luxushotel Ritz-Carlton fest. So lang, bis sie laut bin Salman um die 100 Milliarden US-Dollar herausrückten, um wieder freizukommen. Monatlich werden mittlerweile außerdem sechzehn Menschen geköpft. Des Kronprinzen präzedenzlose Ämterhäufung hat Saudi-Arabiens Obrigkeit binnen eines Jahres zur Einmannherrschaft gemacht.
Innerhalb dieses einen Jahres ist auch Mohammed bin Salmans Außenpolitik zunehmend dreister geworden. Er verschärfte die Konfrontation mit dem Iran und verhängte eine Blockade über Katar. Er ließ den libanesischen Ministerpräsidenten Saad Hariri in Riad kidnappen und zwang ihn, seinen Rücktritt zu erklären (unter internationalem Druck, vor allem dem Druck Emmanuel Macrons, musste er ihn wieder gehen lassen). Als Bundesaußenminister Gabriel die Hariri-Krise "außenpolitisches Abenteurertum" nannte, beorderte der Kronprinz den saudischen Botschafter aus Berlin nach Hause. Wegen eines Menschenrechts-Tweets der kanadischen Außenministerin brach er die Beziehungen zu Toronto ab und berief 8.300 saudische Studenten zurück.
"Mister Bone Saw"
Im Jemen aber führt er einen grausamen Krieg, in dem Zehntausend Zivilisten unter saudischen Bomben gestorben sind und drei Millionen aus ihrer Heimat vertrieben wurden. Sieben Millionen Menschen hungern und eine Million sind an Cholera erkrankt. Seine Machtfülle stieg Salman offensichtlich zu Kopf – umso mehr, je hemmungsloser ihm Donald Trump und dessen Schwiegersohn Jared Kushner um den Bart gingen.
In der Kashoggi-Affäre hat MSB, wie er sich gern nennen lässt, dann maßlos und unentschuldbar überreizt. Nach allem, was wir mittlerweile wissen, steht MSB absolut gerechtfertigt für Mister Bone Saw, Mister Knochensäge.
Fast drei Wochen lang haben die Saudis dreist gelogen: Jamal Kashoggi habe das Konsulat in Istanbul lebend wieder verlassen. Jetzt haben sie zugegeben, dass er bei seinem Besuch ums Leben gekommen ist: Aus einer Auseinandersetzung mit Leuten, "die er während seiner Anwesenheit getroffen hat", habe sich ein Faustkampf entwickelt, der für ihn –"Allah habe ihn selig!" – tödlich ausgegangen sei; nach der nächsten Version war es ein unglückseliger "Würgegriff".
Hanebüchene Lügengeschichten, die den Kronprinzen aus der Schusslinie nehmen sollen, die aber niemanden überzeugen. Weshalb wurden denn fünfzehn Männer aus der nächsten Umgebung Salmans nach Istanbul geschickt, darunter mehrere Leibwächter, drei Obristen und der prominente Gerichtsmediziner al-Tubaigy, ein Meister im blitzartigen Zerlegen von Leichen? Einige im Düsenjet Salmans? Und wo ist eigentlich die Leiche des toten "Faustkämpfers"? Man sollte den Verlautbarungen Riads kein Wort glauben.
Den Bombenkrieg nicht erleichtern
Es wäre mehr als unanständig, vor der saudischen Gewalttat die Augen zu verschließen, nur um Rüstungsaufträge zu retten. Bedauerlicherweise ist kein Verlass darauf, dass der aufgebrachte US-Kongress den so geschäftsgierigen wie menschenrechtsblinden Präsidenten Trump davon wird abhalten können. Aber wir sollten dabei nicht mitmachen. Nicht nur der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, fordert zu Recht, die Ausweisung saudi-arabischer Diplomaten aus Deutschland zu prüfen und alle Waffenlieferung einzustellen, auch die bereits zugesagten, falls in Riad nicht "ganz kurzfristig" entscheidende Konsequenzen gezogen werden. Auch sprach er sich dafür aus, dass deutsche Politiker, aber zugleich deutsche Wirtschaftsführer diese Woche der Investorenkonferenz "Davos in der Wüste" fernbleiben.
Der Mord in Istanbul sollte die Bundesregierung dazu bringen, endlich ernst zu machen mit ihren eigenen Leitlinien. So enthalten die "Politischen Grundsätze für Kriegswaffenausfuhr" in der Neufassung von 2000 den eindeutigen Satz: "Die Beachtung der Menschenrechte ist für jede Exportentscheidung von hervorgehobener Bedeutung, unabhängig davon, um welches mögliche Empfängerland es sich handelt." Und im Koalitionsvertrag von CDU/CSU und SPD heißt ebenso eindeutig: "Wir werden ab sofort keine Ausfuhren mehr in Ländern genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind."
Laut dem letzten Rüstungsexportbericht hat die Bundesregierung im vergangenen Jahr dennoch 129 Genehmigungen für Waffenausfuhren nach Saudi-Arabien genehmigt, darunter Patrouillenboote im Wert von 254.457.823 Euro. In den ersten neun Monaten dieses Jahres gab es Rüstungsexporte an die Saudis im Wert von 416 Millionen Euro, erfuhr der Grünen-Abgeordnete Omid Nouripour auf Anfrage von der Bundesregierung. Dabei wurden – man glaubt es kaum – auch Ortungsradare und Ausrüstungsteile für die Luftbetankung von Kampfflugzeugen geliefert.
Ich frage mich: Müssen wir tatsächlich den schonungslosen Bombenkrieg der Saudis erleichtern? Und müssen wir ihnen wirklich Patrouillenboote verkaufen, mit denen sie am Ende die Häfen blockieren, über welche die darbenden Jemeniten Lebensmittel und Medikamente beziehen können?
Die Antwort müsste uns allen selbstverständlich sein: natürlich Nein. Notfalls könnte die Bundesregierung ja die Vertragsstrafen für ausfallende Rüstungslieferungen übernehmen. Und Frontex, die EU-Grenzsicherungsflotte im Mittelmeer, würde sich gewiss über die Patrouillenboote freuen.