Auch heute werden im Jemen 130 Kinder an den Folgen von Unterernährung sterben, vielleicht ein paar weniger, vielleicht auch einige mehr. Das macht 50.000 tote Kinder pro Jahr. Die Hälfte der Bevölkerung, 14 Millionen Menschen, sind von einer akuten Hungersnot bedroht. Das heißt: Sie können sich nicht mehr selbst ernähren, sondern sind komplett auf fremde Hilfe angewiesen. Der Beauftragte der UN sagt, die Katastrophe sei in dem Land, in dem seit dreieinhalb Jahren Krieg herrscht, "viel größer als alles, was die Experten auf diesem Gebiet in ihrem Berufsleben je erlebt haben."
Entscheidend dafür ist Saudi-Arabien, dessen Flugzeuge im Jemen Wohngebiete, Märkte, Beerdigungen, Hochzeiten, Gefängnisse, zivile Schiffe und Krankenhäuser bombardieren. Jetzt empört sich die westliche Welt über Saudi-Arabien. Aber nicht wegen des Kriegs im Jemen. Sondern wegen des Mordes an dem Journalisten Jamal Khashoggi.
Das brachte selbst Volker Perthes, den altgedienten Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik, zu der Feststellung: "Es ist eigentlich erstaunlich, dass Saudi-Arabien plötzlich wegen eines Mordes, egal wer letztendlich dafür verantwortlich war, am Pranger steht, und nicht wegen des seit Jahren anhaltenden Jemen-Krieges, der mindestens so viel Kritik notwendig hat."
Recht hat er. Das ist erstaunlich.
Ein harmloseres Beispiel für denselben Mechanismus: Europäische Journalistinnen und Journalisten, darunter auch von ZEIT ONLINE, haben aufgedeckt, wie Superreiche mehrere Staaten Europas um 55,2 Milliarden Euro betrogen haben. 33,8 Milliarden Euro Schaden sind es in Deutschland. Rechnerisch wurden jedem Deutschen damit mehr als 400 Euro geklaut. Tatsächlich schwappt eine Welle der Empörung durch die digitale Öffentlichkeit, wird über asoziale Reiche gestritten – aber nur zum Teil wegen des Cum-Ex Skandals. Für mehr Erregung sorgt eine Rolex, die die Politikerin Sawsan Chebli am Handgelenk trägt, was aus Sicht einiger für eine Sozialdemokratin obszön und deshalb empörenswert zu sein scheint.
Auch das ist erstaunlich, oder? Öffentliche Empörung scheint sich nicht an den größten Anlässen zu entzünden. Sie erscheint oft unverhältnismäßig.
Woran liegt das?
Es hilft zu verstehen, dass die Empörung der wütende Zwilling des Mitgefühls ist. Das eine ist negative Anteilnahme, das andere positive. Das Mitgefühl für Opfer eines Terroranschlags in Paris ist in Deutschland viel höher als für das Terroropfer in Beirut oder Ankara, ja, oft ist gar das Mitgefühl für die Schicksalsschläge im Leben eines Promis höher als das für Kriegsopfer. Mitgefühl und Empörung, beides sind Gefühle, die sich nicht an die Kriterien der Rationalität zu halten scheinen. Aber es gibt doch Kriterien, die darüber entscheiden, wann diese Gefühle wie stark werden, wann die Empörung klein bleibt und wann sie hochkocht.
Muss ich etwas tun oder nur die anderen?
Wie anschaulich und verständlich ist der Fall?
Wie genau lief dieser Cum-Ex Betrug nochmal ab? Manche Dinge sind so kompliziert, dass auch die besten Erklärvideos noch einen Rest Konzentration erfordern. Eine Rolex am Handgelenk einer Politikerin hingegen: das versteht man in einer Sekunde.
Das Abstrakte hat schlechte Karten gegen das Konkrete. Und die Opferstatistiken aus einem fernen und deshalb irgendwie ortlosen Land namens Jemen haben schlechte Karten gegen den Thriller-Plot des in eine Botschaft gelockten, getöteten und vermeintlich mit einer Knochensäge zerteilten einzelnen Opfers. Dieses Opfer hat einen Namen und ein Gesicht. Es gibt sogar verpixelte Videoaufnahmen von Überwachungskameras!
Gibt es ein identifizierbares und bequemes Ziel?
Jeder Affekt braucht ein Ziel. Sawsan Chebli ist eine polarisierende Politikerin, eine junge migrantische Frau noch dazu. All das macht sie zu einem leichteren Ziel als die Akteure im Cum-Ex Skandal: eine nur grob umrissene Gruppe anonymer Banker und Betrüger. Die lassen sich auch nicht so leicht antwittern.
Und Saudi-Arabien ist zwar muslimisch, was die Empörung hierzulande eher fördern könnte, aber als Feindbild auch nicht so etabliert wie beispielsweise die türkische Regierung. Wer kannte bisher schon Mohammed bin Salman? Erdogan kennt jeder.
Gibt es Akteure und Schablonen, die die Empörung verstärken?
Früher gab es ein wirkmächtiges Raster, das heute wunderbar zum Fall Cum-Ex passen würde. Es heißt: Klassenkampf. Es war unter sozialistisch bis sozialdemokratisch Gesinnten selbstverständlich, Bereicherungen von Reichen auf Kosten der Mehrheit als direkten Angriff zu verstehen, auf die Gerechtigkeit und auf einen selbst. Diese Menschen hätten Cum-Ex sehr persönlich genommen. Aber Klassenkampf ist abgesagt. Klare Fronten sind heute verpönt, weil ja angeblich Komplexität die Ideologie abgelöst hat.
Die Fronten wären herstellbar, denn die Regeln der Empörung lassen sich verändern. Ein Beispiel: Früher gab es kaum öffentliche Empörung über sexualisierte Gewalt, heute schon. Wenn genug einflussreiche Akteurinnen und Akteure sich darum bemühen, die Empörung auf ein Ziel zu lenken, dass ihrer wert ist, kann das einen Unterschied machen.
Im Fall Cum-Ex ist nicht bekannt, dass Parteien Sondersitzungen einberufen oder Kampagnen gestartet hätten. Der Spitzenkandidat der SPD bei der Landtagswahl in Hessen Thorsten Schäfer-Gümbel probiert es, nimmt sein Scheitern aber selbst vorweg: "Es ist ein Wahnsinn, dass kaum jemand über die Cum-Ex- und Cum-Cum-Geschäfte redet, die unsere Kitas und Schulen 35 Milliarden gekostet haben. Hätte Hessen davon nur ein Zehntel, könnte ich die Kitas dreimal gebührenfrei machen und noch Lehrer einstellen und Wohnungen bauen."
Muss ich etwas tun oder nur die anderen?
Gegen Sawsan Cheblis Rolex kann nur Chebli selbst etwas tun, nämlich sie ablegen und Abbitte leisten. Wer sich also über die Rolex empört, ist auf der sicheren Seite: Er verpflichtet Chebli auf eine bestimmte Moralvorstellung und erwartet dann, dass sie sich danach richtet. Ob er sich selbst daran hält, bleibt hingegen seine Privatsache.
Ganz anders verhält es sich bei Cum-Ex und dem Jemen-Krieg. Wer sich über sie empört, müsste als Wählerin oder Wähler konsequenterweise auch die eigene Weltanschauung und Wahlentscheidung überdenken. Die Linkspartei setzt sich seit Jahren sowohl für mehr steuerlichen Druck auf Reiche als auch für ein Ende aller Waffenlieferungen an Saudi-Arabien (und alle anderen Staaten) ein. Also Linkspartei wählen? Vielleicht würde deren Programm aber in anderen Punkten den eigenen Interessen schaden, den eigenen Ansichten widersprechen? Dann müssten die Empörten abwägen: Sind ihm Saudi-Arabien und Cum-Ex so wichtig, dass sie dafür in anderen Bereichen Nachteile in Kauf nehmen würden? Genau da, wo Konsequenzen für das eigene Leben drohen, würde politisches Handeln beginnen.
Ist das zu viel verlangt? Vielleicht. Keine Stimme für die Linkspartei kann den Jemenkrieg beenden. Und was man nicht ändern kann, das ignoriert man lieber, damit es einen nicht bedrängt. Ohne die Kulturtechnik der Verdrängung wäre privater Frieden unmöglich. Aber wer sich nur so weit empört, bis er selbst handeln müsste, sollte nicht so tun als wäre das ein politisch oder auch nur moralisch wertvoller Akt.
Empörung erzeugt Aufmerksamkeit erzeugt Dringlichkeit erzeugt Handeln. Deshalb hat neben Politikern und Medien auch jeder einzelne Bürger eine Verantwortung dafür, worüber er sich öffentlich erregt.