Am Dienstag dieser Woche wurde ich Zeuge eines bemerkenswerten Schauspiels. Ich war im Kanzleramt, wo die Ergebnisse des Koalitionsgipfels vorgestellt wurden. Ich traf auf von der langen Verhandlungsnacht gezeichnete Politiker, die eine Einigung präsentierten, auf die sie einigermaßen stolz zu sein schienen: Man verständigte sich auf die Grundzüge eines Einwanderungsgesetzes und auf eine Lösung für die Dieselkrise.
Und noch während man die Details erläuterte, wurden die ersten Verrisse verfasst: "Luftnummer" (Süddeutsche Zeitung), "unterwürfige Regierung" (Deutsche Umwelthilfe), "Rückführungsoffensive gründlich gescheitert" (Die Welt). Der Koalition und ihrer Kanzlerin – so der Tenor dieser und anderer Kommentare – fehlt die Kraft zum Regieren. Oder anders formuliert: Alles Flaschen, vor allem Mutti.
Nun gibt es gute Gründe, mit den Entscheidungen, die beim Koalitionsgipfel getroffenen wurden, unzufrieden zu sein. Die Autoindustrie wird beim Thema Diesel geschont, im Bereich Zuwanderung sind noch viele Fragen offen und man muss kein Veganer sein, um zu dem Urteil zu gelangen, dass die Verschiebung des Verbots der Kastration von Ferkeln ohne Betäubung um zwei Jahre ein Skandal ist.
Aber immerhin gibt es in Deutschland bald wahrscheinlich ein Einwanderungsgesetz, das es für die Unternehmen leichter macht, Fachkräfte im Ausland anzuwerben und das auch geduldeten Flüchtlingen den Zugang zum Arbeitsmarkt verschafft. Und was genau ist schlecht daran, dass die Koalition Geld in die Hand nimmt, um Müllwagen, Reinigungsfahrzeuge und andere schwere Dieselautos nachzurüsten?
Legen wir die falschen Maßstäbe an?
Sicher: Es wäre gut gewesen, wenn die Autoindustrie einen größeren Beitrag geleistet hätte. Aber die Autoindustrie ist – um es mit den Worten eines früheren Bundespräsidenten zu sagen – ein Teil von Deutschland. Sie zahlt Steuern und schafft Arbeitsplätze.
Bewerten wir politisches Handeln nicht manchmal nach den falschen Maßstäben? Es war sicher keine Glanzleistung, den offensichtlich unfähigen Verfassungsschützer Hans-Georg Maaßen zunächst zum Staatssekretär befördern zu wollen. Aber es soll auch in der Privatwirtschaft Nieten geben, die es auf der Karriereleiter nach oben schaffen. Wenn das in der Politik passiert, ist gleich von Systemversagen die Rede.
Dabei dürfte die Problemlage, mit der es diese Politikergeneration zu tun hat, eine Stufe komplexer sein als die Herausforderungen der meisten Unternehmenschefs. Wir leben in einer Welt, in der Donald Trump gerade die internationale Ordnung zertrümmert, in der die neue italienische Regierung das europäische Einigungswerk zu sprengen droht und in der sich ökologische und soziale Verwerfungen zu einer Krise mit globaler Dimension zu verdichten drohen.
Zielkonflikte, überall
Was die Lösung dieser Probleme so schwer macht, sind die Zielkonflikte. Wer die Umwelt schützt, der – siehe Diesel – belastet möglicherweise die Wirtschaft und damit den sozialen Zusammenhalt. Wenn Pflegekräfte mehr verdienen sollen, muss der Pflegebeitrag erhöht werden, den die Arbeitnehmer bezahlen. Was die Populisten im Süden Europas schwächen würde – eine europäische Gemeinschaftskasse, aus der zusätzliche Investitionen finanziert werden – würde die Populisten im Norden stärken. Und so weiter.
Angela Merkel ist nicht die einzige Politikerin, der angesichts dieser Umstände die Ideen ausgehen. In der gesamten westlichen Welt nimmt die politische Instabilität zu – selbst die vermeintliche Lichtgestalt Emmanuel Macron ist im eigenen Land unter Druck. Mit der Schwere der Probleme nimmt auch die Erwartung zu, dass diese durch politische Entscheidungen gelöst werden können.
Verständnis für die Zwänge der Politiker
Als ich am Dienstag den müden Politikern im Kanzleramt gegenübersaß, fragte ich mich, was ich an ihrer Stelle getan hätte. Wenn es meine Aufgabe gewesen wäre, die Interessen der Dieselfahrer gegen die Interessen der Stadtbewohner abzuwägen. Oder wenn ich hätte entscheiden müssen, was wichtiger ist: die Chance, dass durch den erleichterten Zugang zum Arbeitsmarkt auch die Integration der Flüchtlinge vorankommt. Oder das Risiko, dass die AfD durch diesen Schritt noch stärker wird. Die ehrliche Antwort: Ich wäre ziemlich ratlos gewesen – und vielleicht hätte sich der von mir verhandelte Kompromiss kaum von dem unterschieden, was die Koalitionäre ausgehandelt haben.
Das soll kein Plädoyer dafür sein, Politikern alles durchgehen zu lassen. Aber ich werbe um Verständnis für die Zwänge, in denen sie stecken. Es ist einfach, Missstände zu beschreiben oder anzuprangern. Sie zu beseitigen ist erheblich schwerer.