Interview mit einem Vampir Wann immer wir sprechen, spielen Klasse, Kultur und Geschlecht eine Rolle. Warum nur fällt es mir so schwer, öffentlich souverän über mich und meine Arbeit zu reden? VON DANIELA DRÖSCHER |
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| | Über die Scham zu sprechen kann ein emanzipatorischer Akt sein. © Charles Deluvio/unsplash.com |
Ich stehe am Mikrofon einer öffentlich-rechtlichen Sendeanstalt und bin eingeladen, über mein neues Buch zu sprechen. Fast wäre ich zu spät gekommen, ich bin außer Atem. Es ist das erste Mal seit fünf Jahren, dass ich einem Literaturkritiker gegenübersitze. Fünf Jahre, und ich komme zu spät. Das allein genügt: Ich empfinde die Situation als einschüchternd.
Das Interview beginnt und ich merke, wie alles in mir erschlafft. Ich höre die Fragen wie im Nebel, ich kann mir förmlich dabei zusehen, wie meine Sprache stottert, hakelt und verknotet. Es ist verrückt. Das Thema meines Buches ist der doppelte Milieuwechsel innerhalb meiner Familie und die damit verbundene Herkunftsscham. Die Scham, die mich lange Zeit in intellektuellen Kreisen befiel, insbesondere beim Sprechen in der Öffentlichkeit. Der Gegenstand unserer Rede spiegelt sich also eins zu eins in der Form. Nur bleibt dies unkommentiert. Über die Scham schreiben konnte ich, wenn auch nicht ohne Mühe. Öffentlich über diese Scham zu sprechen beschämt mich offenbar. Noch immer.
Es ist zu spät, als ich merke: Ich antworte wie eine brave Abiturientin. Der Moderator macht nichts falsch. Er stellt Fragen, ich antworte. Wie in einer Prüfung fühlt es sich an. Sogar dass sich Ungenauigkeiten einschleichen, lasse ich zu. Ich widerspreche nicht, als die Fragen meine Eltern als kleinbürgerlich rahmen, obwohl ich die Konnotationen dieses Etiketts nicht mag. Wie ich überhaupt keine Etiketten mag. Zu sehr fürchte ich die Nähe zum Ressentiment.
Wir reden über Scham und ich sage nicht, dass es eine Scham zweiter Ordnung ist, die ich gelernt habe, für meine Herkunft zu empfinden. Ich sage nicht, dass ich gelernt habe, mich zu schämen. Ich sage nicht, dass es für diese Scham nie einen Grund gab. Dass ich meine Eltern liebe. Und dass genau das das Schlimme ist. Nichts ist schlimmer, als sich für jemanden, den man liebt, zu schämen. Ich sage nicht, dass es gar nicht allein um mich geht. Um meine Geschichte. Dass ich nur "ich" sage, damit andere "ich" sagen können.
Noch während des Interviews ärgere ich mich. Ich hatte gedacht, ich sei weiter. Freier in meinem Sprechen. Am Vorabend, bei meiner Buchpremiere, war ich es. Und in den Interviews davor und danach auch. Offenbar aber muss ich die Scham noch immer und immer wieder verlernen. Ich muss sie aussprechen und dieses Aussprechen als emanzipatorischen Akt begreifen lernen, wie meine Kollegin Dilek Güngör zuletzt in ihrem wunderbaren Text ausführte.
Im Schreibprozess habe ich mit einer Freundin gescherzt, ein geflügeltes Wort daraus gemacht: "Habitus erkannt, Habitus gebannt." Von wegen. Der Habitus ist eine "zweite Natur". Niemand kann ihn so leicht ablegen. Die erlernte soziale Grammatik sitzt tief in mir. Wie ein überaus resistenter Vampir, der mich aussaugt und lähmt, wenn ich es ihm erlaube, dass er mich im öffentlichen Sprechen hinterrücks heimsucht.
Dieser Vampir ist das Produkt eines Geflechts. Klasse, Kultur, Geschlecht – ich kann das eine kaum vom anderen trennen. Ich bin nicht nur ein "Aufsteigerkind", ich bin auch das Kind einer Mutter, die wiederum als Kind schlesiendeutscher Aussiedler*innen ihrem Selbstbild nach eine Fremde geblieben ist in dieser westdeutschen Mittelklasse-Normalität. Im Polen der Nachkriegszeit ist sie überdies mit einem Sprachverbot aufgewachsen, auch deshalb wählt sie ihre Worte umsichtig. Und nicht zuletzt bin ich selbst – eine Frau.
In ihrem Essay Frauen und Macht führt Mary Beard aus, dass es lange Zeit als verfemt und "störend" galt, wenn Frauen versuchten, an öffentlichen Debatten teilzuhaben. Das Timbre der weiblichen Stimme stand unter Verdacht, die Autorität des Mannes und damit die "Gesundheit" des Staates zu untergraben. Der Redner Dion Chrysostomos ("Goldmund") entwarf im 2. Jahrhundert n. Chr. folgendes Schreckensbild: Man solle sich nur vorstellen, wie "ein ganzes Volk von dem Missgeschick befallen (würde), dass alle Männer die Stimmen von Frauen bekämen und weder jung noch alt in seiner männlichen Tonlage sprechen könnte. Würde man das nicht für ein furchtbares Unglück halten, vielleicht noch schlimmer als jede Pest?"
Über einem Interview hängt stets der Spiegel der Ewigkeit
Auch diese historische Tiefenschicht spukt in mir, wann immer ich ein Interview gebe. Die Scheu vor der öffentlichen Rede ist tief verinnerlicht. Ich bin weit entfernt von meinem Ideal der parrhesia: dem freimütigen, nichtstrategischen Sprechen in der Öffentlichkeit. Ein allmähliches, tastendes Sprechen in actu, das Gedanken formuliert, vertieft, verwirft, ein Sprechen, das vorläufig und fehlerhaft sein darf.
Was den inneren Vampir in mir füttert, ist aber genau das: die Angst vor dem Fehler (auch das, ein anerzogener Habitus: die Perfektion). Ein gesagtes Wort kann ich nicht mehr zurücknehmen. Anders als im Schreiben kann ich es nicht durchstreichen oder korrigieren. Gesagt ist gesagt.
Entscheidend für meine Angst sind nicht zuletzt die Speichermedien im Raum (Kamera, Mikrofon). Über einem Interview hängst stets der Spiegel der Ewigkeit. Es gibt neben dem Publikum eine unsichtbare vierte Instanz, die wichtiger zu sein scheint als das Publikum selbst. Eine Instanz, von der alle Beteiligten wissen, dass sie das Gesagte zu einem öffentlichen Bild verfestigen wird. Einem Bild, das gespeichert wird – bis in alle Ewigkeit.
Manche Kolleg*innen verfolgen angesichts des Spiegels der Ewigkeit die Strategie, einfach gar nicht auf die gestellten Fragen einzugehen, sondern das zu sagen, was sie sagen wollen. Ihre "Botschaft" zu überbringen. So einleuchtend mir das einerseits erscheint, so sehr spüre ich einen Widerstand. Eben weil es eine Strategie ist. Mit dem Wort "Strategie" ist ein gewisser Antagonismus von vornherein eingekauft. Von einem Interview scheint eine latente Bedrohung auszugehen. Wie kann das sein?
Als Autorin redet man in einem Interview meistens darüber, warum man ein Buch geschrieben hat. Der Fokus der Rede liegt bei mir. Meiner Person. Meiner Absicht. Nicht bei dem Gegenstand – also dem Buch selbst. Und darin steckt vielleicht schon der ganze Fehler. An dem Personenkult, den die Autorschaft noch immer umgibt. Ein publiziertes Buch ist aus Sicht der Autorin fertig. Es geht in die Welt und findet seine Fortsetzung durch die, die es lesen. Mit ihm in Dialog treten. Demnach wäre ein Interview das Gegenteil einer Prüfung. Es wäre etwas, das im lebendigen, gemeinsamen Hier und Jetzt geschieht, und weniger eine Art Retrospektive dessen, was bereits gedacht wurde. Mich als Autorin zu interviewen müsste also sowohl der Intimität der Lektüre als auch der Intimität des Schreibens gerecht werden wollen. Intimität aber hat mit Offenheit zu tun. Das ist der Wortsinn von "Interview": "sich wechselseitig (kurz) sehen" oder "gegenseitig Standpunkte austauschen". Mich interessiert als Autorin viel mehr, was mein Gegenüber denkt, als das, was ich mir gedacht habe im Schreiben. Denn das weiß ich ja bereits. Und oftmals ist es ohnehin Unsinn. Ein Buch ist immer klüger als man selbst.
Was würde mit dem Genre des Interviews passieren, wenn grundsätzlich alle Beteiligten "ich" würden? Wer "ich" sagt, macht keinen Hehl aus seiner Subjektivität. Seinem (Klassen-)Standpunkt. Sich selbst transzendieren kann ohnehin niemand. Warum nicht sich offen zeigen? Kommt man einem Buch so nicht um einiges näher? Ist nicht "das Allerobjektivste (…) das Subjektive" (Alexander Kluge)?
Wer es riskiert, derart freimütig zu sprechen, müsste bereit sein, den Spiegel der Ewigkeit über dem eigenen Kopf zu zertrümmern. Den inneren Vampir ans Tageslicht zu zerren, damit er zu Staub verfällt. Ich wünsche keinem lebendigen Wesen den Tod. Unerwünschten, leblosen Wiedergängern hingegen schon. Denn sie bedrohen mein Hier und Jetzt. Die kostbare Lebenszeit, die ich mit anderen teile.
"Schmeiß dein Ego weg" hat René Pollesch seinem Publikum schon vor Jahren von der Agora der Berliner Volksbühne aus zugerufen. Seither versuche ich, seinen Rat zu beherzigen. Das ist gar nicht so einfach. Verrückterweise klappt es erst besser, seit ich "ich" sage.
Daniela Dröscher, Jahrgang 1977, schreibt Prosa, Theatertexte und Essays. Im Herbst 2018 erschien der autobiografische Text "Zeige deine Klasse. Die Geschichte meiner sozialen Herkunft" bei Hoffmann und Campe. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen. |
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