Ich fand Hexen immer faszinierend. Obwohl die meisten Märchen sie mit furchtbaren Charakter- und Gesichtszügen schildern, stellten sie für mich, anders als die Jungfrau, die Prostituierte oder die Mutter, einen weiblichen Archetyp mit nennenswertem Machtfaktor dar. Vielleicht deswegen schenkte ich meiner Tochter ziemlich früh ein Hexenkostüm. Nur traute ich mich bisher nie, das Wort Hexe als positive Bezeichnung zu verwenden. Eine Hexe zu sein ist ja im üblichen Sprachgebrauch eine Beschimpfung. Man denke nur an die Hexen-Beschimpfungen, denen Hillary Clinton während des Wahlkampfes 2016 ausgesetzt war.
Seit letztem Herbst taucht diese Figur immer wieder in den französischen Medien auf: Im September 2017 demonstrierten einige Dutzend Frauen in schwarzen Gewänden mit spitzen dunklen Hüten und der Parole "Macron in den Kochtopf" gegen die Reform des Arbeitsrechts; die Tageszeitung Le Mondetitelte daraufhin "Die große Rückkehr der Hexen" . Die Gruppe, die sich selbst als Witch Bloc Paname bezeichnet (paname steht auf Französisch umgangssprachlich für Paris), erklärte, dass sie "militant und feministisch" sei und "für Aufruhr sorgen" wolle. In den folgenden Monaten gründeten sich weitere Gruppen in ganz Frankreich, die man immer wieder in Hexenkostümen demonstrieren sah. Die Pariser Gruppe zählt inzwischen mehr als 4.000 Follower auf Facebook.
Solche Witch-Gruppen hatten sich bereits in den Sechzigerjahren in den USA gegründet und damit die Figur der Hexe rehabilitiert – als Symbol der freien Frau im feministischen Milieu. Auch in Frankreich war bereits zwischen 1975 und 1982 eine Zeitschrift mit dem Titel Sorcières (Hexen) erschienen, an der unter anderem Hélène Cixous, Marguerite Duras, Luce Irigaray oder Julia Kristeva mitgewirkt hatten. Die Figur der Hexe wird jedoch erst in jüngster Zeit verstärkt aufgegriffen: Seit 2015 veröffentlicht der französische Buchverlag Cambourakis eine Reihe von feministischen Dokumenten unter dem Namen Sorcières, und seit 2016 erscheint halbjährlich das elegante englischsprachige Sabat Magazine , eine Zeitschrift über Feminismus und Magie.
Zu dieser Welle passt der vor Kurzem veröffentlichte Essay Sorcières, la puissance invaincue des femmes("Hexen, die unbesiegte Macht der Frauen") der französisch-schweizerischen Autorin Mona Chollet, in dem sie die vielfältigen Spuren untersucht, die die Hexenverfolgung in unserer Gesellschaft hinterlassen hat.
Die Hexenverfolgung begann mit der Neuzeit und erreichte ihren Höhepunkt im 16. und 17. Jahrhundert, einer Epoche, in der die Wissenschaft anfing, die Welt neu zu ordnen. Den geistigen Weg ebneten unzählige misogyne Schriften, die Ende des Mittelalters verfasst wurden. Die Hexenjagd traf vor allem Frauen, die nicht den Normen entsprachen: Witwen, ältere Frauen, Frauen mit einer ungezügelten Sexualität oder solche mit einem starken Charakter. Oft waren es Heilerinnen oder Hebammen, die, wie die feministischen Historikerinnen Silvia Federici, Barbara Ehrenreich oder Deidre English gezeigt haben, wertvolles Wissen über Pflanzen und Heilmethoden besaßen und für die damaligen Mediziner und Wissenschaftler daher als Konkurrenz galten. In derselben Zeit wurde die Verhütung und Abtreibung kriminalisiert.
Wie viele Frauen, oft unter Folter, starben, ist umstritten. Historiker sprechen von 200.000 Prozessen wegen Hexerei und von 50.000 bis 100.000 weiblichen Opfern. Etwa 80 Prozent der Angeklagten waren Frauen, Mona Chollet spricht daher von einem "Krieg gegen Frauen". Interessanterweise waren die Verfolgungen besonders in Deutschland und in der Schweiz ausgeprägt, vor allem in katholischen Gebieten wie Köln oder Trier, die an der Grenze zu protestantischen Regionen lagen. Das 1487 veröffentlichte Buch Malleus Maleficarum, auf deutsch Hexenhammer, definiert, was eine Hexe kennzeichnet, beschreibt deren magische Praktiken und detailliert die Regeln für Hexenprozesse, unter anderem wie die Folter einzusetzen sei. Das Buch legitimierte die Hexenverfolgung, es wurde in ganz Europa gelesen und erreichte bis ins 17. Jahrhundert mehr als 15 Auflagen mit insgesamt 30.000 Exemplaren.
"Sonst werde ich enden wie Tante Geneviève"
Die Folgen der Hexenverfolgung und des daraus resultierenden desaströsen Frauenbildes finden sich bis heute, behauptet die Autorin. Daraus begründeten sich etwa die abwertende Haltung der Gesellschaft gegenüber bestimmten Frauentypen: der kinderlosen Frau, der älteren Frau und der Single-Frau, die auf Französisch (und seltener auch auf Deutsch) Katzenfrau genannt wird – die Katze als typisches Attribut von Hexen soll die emotionalen Bedürfnissen der einsamen Frau auffangen. In ihrem Essay erinnert Chollet daran, dass Papst Gregor IX. im Jahr 1233 die Katze zu einer "Bediensteten des Teufels" erklärt hatte. Später, im 15. Jahrhundert, verlangte Papst Innozenz VIII., dass wegen Hexerei verurteilte Frauen mit ihren Katzen hinzurichten seien.
Schon als Mädchen wurde mir in meiner katholischen und konservativen Familie vermittelt, dass das Singledasein und die Kinderlosigkeit keine erstrebenswerten Lebenswege für eine Frau wären. Mein Vater hat vier Schwestern, von denen bis auf eine alle geheiratet und viele Kinder geboren haben. Die Ausnahme, meine Tante Geneviève (Name geändert), blieb single und kinderlos. Sie hatte und hat etliche psychische und körperliche Beschwerden und war oft sehr traurig. Schon früh wurde mir suggeriert, dass ihr Unglück mit ihrem Singledasein zusammenhänge, was sowohl Mitleid als auch Antipathie in der Familie auslöste. Sie wurde als Vogelscheuche im Feld der Weiblichkeit stilisiert. Passend dazu besaß sie als Haustier eine siamesische Katze mit dem bedeutungsvollen Namen Hercule. Als mir später einige meiner Cousinen von ihrer Angst berichteten, keinen Mann zu finden, sagten sie: "Sonst werde ich enden wie Tante Geneviève."
Noch schlimmer als die Wahrnehmung der Katzenfrau erscheint mir jedoch die der alten Frau. Dazu passt, wie Chollet unterstreicht, dass die meisten hingerichteten Frauen alt waren. Bis heute hat das Altern eine andere Bedeutung für eine Frau als für einen Mann. Ältere Frauen sind, so wie es vor Kurzem eine Autorin im SZ-Magazin bemerkte, unsichtbar. Nach dem 50. Geburtstag sieht man sie kaum in Filmen oder Werbung, nie auf den Covern von Frauenmagazinen, und Statistiken zeigen, dass sie häufig allein wohnen. Wenn sie hingegen sichtbar sind, dann haben sie so sehr an ihrem Körper gearbeitet, dass man ein irreales Bild einer 50-jährigen Frau zu sehen bekommt. Steht eine bekannte Frau zu ihrem Alter, indem sie beispielsweise ihre weißen beziehungsweise grauen Haare nicht färbt, gibt es ebenso heftige Reaktionen, als ob sie eine verbotene Grenze überschritten hätte.
Frauen, die offenbar nichts zu gewinnen haben
Die französische Journalistin Sophie Fontanel berichtet darüber in ihrem Roman Une apparition ("Eine Erscheinung"): "Die Darstellung der 50-jährigen Frau, ihrer Schönheit, ihrer Freiheit, bleibt ein unentdecktes Land." Bekommt ein Mann graue Haare, wird dies nicht kommentiert, man erwähnt es höchstens nebenbei als Zeichen seiner Lebenserfahrung und Weisheit. Als meine Schwester neulich einige weiße Haare auf meinem Kopf entdeckte, fragte sie mich sofort mit ernster Miene, ob sie sie mir gleich entfernen solle. Ich begann mich zu fragen, ob ich jetzt einer neuen Kategorie von Frauen angehörte, die offenbar nichts zu gewinnen haben.
Der Essay von Mona Chollet ist in Frankreich auf großes mediales Interesse gestoßen. Ganz überraschend ist das nicht. Seit einigen Jahren diskutiert die französische Öffentlichkeit intensiv über den Begriff Feminizid. Seit 2005 führen die Behörden eine Statistik über den "gewaltsamen Tod im Rahmen der Partnerschaft". 2016 registrierte das französische Innenministerium 109 Morde an Frauen, sogenannte Beziehungstaten. Diese Fälle werden zunehmend besprochen, wie etwa das Schicksal von Emilie Hallouin, Mutter von drei Kindern, die am Tag ihres 34. Geburtstags von ihrem Mann, den sie gerade verlassen hatte, gefesselt auf die Eisenbahnstrecke zwischen Nantes und Paris gelegt wurde. Ein TGV überrollte und tötete sie. Chollet sieht darin eine Fortsetzung der Hexenverfolgung. Es handele sich um "eine Art Privatisierung der Hinrichtung von Frauen, die frei leben wollen".
Letztendlich ermutigt die Publizistin die Frauen dazu, über ihr Leben und ihre Körper frei und selbst zu bestimmen. Anhand der Figur der Hexe kritisiert sie den französischen Kult der Rationalität, diesen unbändigen Glauben an die unendlichen Vorteile der Technik, der aus ihrer Sicht eine menschliche Medizin, vor allem in der Geburtshilfe, unmöglich macht und zu einer Distanzierung von der Natur führt. Insofern verkörpere die Hexe eine alternative Lebensweise jenseits der kapitalistischen, industriellen normierten Gesellschaft. Ein solcher Debattenbeitrag ist im Land der Atomenergie, in dem Ökologie nie große politische Erfolge erzielen konnte, besonders bemerkenswert und zeigt den Wandel der französischen Gesellschaft. In diesem Prozess könnten die Frauen laut Mona Chollet eine wichtige Rolle spielen.
Auch ich beginne, meine Haltung zu ändern. Und werde ab jetzt die Bezeichnung Hexe ausschließlich als Kompliment benutzen. Eine andere Frau zu sein bleibt heute wie gestern eine Herausforderung. Eine Katze werde ich trotzdem nicht adoptieren.
Cécile Calla,1977 geboren, war Korrespondentin der französischen Tageszeitung "Le Monde "und Chefredakteurin des deutsch-französischen Magazins "ParisBerlin". Sie hat das Blog "Medusablätter" über Frauen und Feminismus gegründet. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".
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