Weltoffen oder konservativ? Seit 60 Jahren ist der Aga Khan Imam der Ismailiten. Das Jubiläum war für die Angehörigen der schiitischen Konfession Anlass, über ihr Selbstverständnis nachzudenken. VON GHAITHAA ALSHAAR |
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| | Aga Khan (l.), der Imam der Ismailiten, in Lissabon mit dem portugiesischen Präsidenten Marcelo Rebelo im Juli 2018 © Rafael Marchante/Reuters |
Die Ismailiten bilden mit etwas mehr als 20 Millionen Anhängern die zweitgrößte Glaubenskonfession des schiitischen Islam. Sie leben in über 25 verschiedenen Ländern, hauptsächlich in Zentral- und Südasien und im Nahen Osten. Bestimmte Sitten, die sich im sunnitischen Glauben finden – wie zum Beispiel das Fasten im Ramadan, das Tragen eines Kopftuches bei Frauen, das Pilgern nach Mekka oder die Vielehe –, werden von Ismailiten abgelehnt. In ismailitischen Moscheen beten Männer und Frauen zusammen und es ist Frauen und sogar Kindern gestattet, vor der Gemeinde das Gebet zu sprechen.
Anders als die übrigen muslimischen Glaubensrichtungen haben die Ismailiten auch nur einen Imam – den Aga Khan. Seine Aktivitäten sind, ähnlich denen eines Kirchenoberhauptes, nicht ausschließlich religiöser Natur, sondern umfassen ein breites soziales und politisches Engagement.
Hoffnung auf einen Asylantrag
Vom 11. Juli 2017 bis zum 11. Juli 2018 feierten Ismailiten überall auf der Welt die 60-jährige Amtszeit des Aga Khan. Im Juni 2018 kamen mehrere Tausend nach Frankreich, um ihn in seinem Schloss in Gouvieux-Chantilly persönlich zu sehen – unter ihnen viele, die aus Syrien nach Europa geflüchtet waren. Zum Abschluss des Jubiläumsjahres folgte der Aga Khan einer Einladung der portugiesischen Regierung nach Lissabon. Wieder fanden sich Tausende seiner Anhänger aus aller Welt ein.
Auch viele Ismailiten aus der syrischen Stadt Salamiya, die stark ismailitisch geprägt ist, wären gerne gekommen. Manche Ältere hofften, bei dieser Gelegenheit ihre Kinder, die nach Europa geflüchtet waren, wiederzutreffen, und manche hofften insgeheim auf die Möglichkeit, einen Asylantrag in Europa stellen zu können. Zu ihrer großen Enttäuschung wurde nur einer sehr kleinen Anzahl von ihnen diese Chance zuteil: Nicht einmal 100 Ismailiten aus Salamiya durften, auf Einladung des Aga Khan Development Network (AKDN), nach Lissabon reisen – religiöse Amtsinhaber sowie Musiker und Tänzer, die zur Untermalung des Programms gebraucht wurden.
Aufhebung des Einreiseverbots
Karim al-Husseini ist der 49. Aga Khan und seit mehr als 60 Jahren im Amt. 1936 in Genf geboren, wuchs er unter anderem in Kenia auf und absolvierte ein Studium an der Harvard University. Er begann sein Amt bereits im jungen Alter von 20 Jahren, da sein Großvater in seinem Testament verfügt hatte, dass nicht der Sohn, sondern der Enkel seine Nachfolge antreten solle.
Während der gesamten Amtszeit von Hafis al-Assad (dem Vater von Baschar al-Assad) war es Karim Aga Khan nicht erlaubt, nach Syrien zu reisen und seine Anhänger zu besuchen. Als Baschar al-Assad die Nachfolge seines Vaters als Präsident Syriens antrat, wurde das Verbot aufgehoben. Karim Aga Khan veranlasste daraufhin, dass in mehreren syrischen Städten Banken eröffnet wurden, um den Menschen Kleinkredite zu gewähren; er ließ alte ismailitische Burgen restaurieren, ebenso wie zahlreiche andere alte Gebäude in Damaskus und Aleppo. Zu dieser Zeit begann auch das Aga Khan Development Network seine Arbeit in Syrien.
Die Ismailitenbewegung hatte in ihrer Anfangszeit ihren Hauptsitz in Salamiya. Von hier aus wurden Missionare bis nach Zentralasien und Nordafrika entsandt. Noch heute ist Salamiya für die Ismailiten von großer Bedeutung; neben einer kleinen Anzahl von Sunniten und wenigen Aleviten sind sie die größte hier lebende Gruppe. Auch Aly Khan, der Vater von Karim Aga Khan, liegt hier begraben. In den Achtzigerjahren wurden viele Bewohner Salamiyas vom Regime Hafis al-Assads verhaftet, weil sie dem Kommunismus nahestanden, und erst mit dem Amtsantritt seines Sohnes erlangte ein Teil von ihnen die Freiheit wieder.
Die eigene Konfession über andere stellen
Manche dieser durch Assads Regime unterdrückten und verfolgten Menschen waren trotzdem gegen die syrische Revolution, weil sie in ihr eine durch die "feindlichen" USA unterstützte Aktion sahen. Ein Großteil der Ismailiten aber unterstützte die Revolution. Salamiya war nach Dara und Bayda/Baniyas die dritte syrische Stadt, in der Menschen zu friedlichen Protesten auf die Straße gingen. Obwohl jeden Freitag Tausende von Menschen demonstrierten, wurde über Salamiya nicht berichtet, da sich der Fokus der großen Fernsehkanäle vor allem auf sunnitisch geprägte Städte richtet. Zu der Zeit, als sich in anderen Städten bewaffnete Gruppen bildeten, um gewaltsam auf das brutale Vorgehen des Regimes zu reagieren, blieben die Proteste in Salamiya weiterhin friedlich; möglicherweise, weil die Demonstrationen dort "nur" durch Sicherheitskräfte mit Schlagstöcken aufgelöst wurden und Verhaftungen nach sich zogen, und nicht, wie andernorts, willkürlich auf Demonstranten geschossen wurde.
"Syrisches Mosaik"
Als die Proteste in Salamiya durch Blockaden der Regierung unmöglich gemacht wurden, engagierten sich viele Ismailiten, indem sie Menschen, die aus ihren bombardierten Städten fliehen mussten, Zuflucht gewährten oder andere Städte durch Spenden unterstützen oder als Sanitätskräfte dort arbeiteten. Die Regierung etablierte in Salamiya, wie auch in anderen Städten, aus Bürgern der Stadt eine bewaffnete Lijan-Miliz, um gewaltsam gegen Unterstützer der Revolution vorzugehen. Nun erfuhr auch die ismailitische Gemeinschaft Entführungen und Erpressungen, Folterungen von Gefangenen, Bedrohung und Einschüchterung.
Zu einem frühen Zeitpunkt der Revolution, als die Regierung mehr und mehr Gewalt gegen die Demonstranten einsetzte, wurde die Frage laut, ob Aga Khan nun "seinen" Ismailiten zur Flucht nach Kanada verhelfen würde, wie er es 1971 mit Ismailiten aus Uganda getan hatte, die von der Gewaltherrschaft Idi Amins bedroht waren. Die Menschen aus Salamiya, die der Revolution anhingen, wollten davon nichts wissen, denn sie fühlten sich nicht in erster Linie ihrer Religion, sondern ihrer Nation zugehörig. Aga Khan seinerseits bezeichnete die Ismailiten ebenfalls als Teil des "syrischen Mosaiks". Die Gewalt des syrischen Regimes richtete sich auch nicht, wie es in Uganda der Fall war, gegen eine bestimmte Volksgruppe oder Minderheit, sondern gegen alle Unterstützer der Revolution. Aga Khan hat zwar keinen Versuch unternommen, die Ismailiten aus Salamiya nach Kanada zu bringen – doch das Aga Khan Development Network unterstützt Salamiya jeden Monat mit Geld und Lebensmitteln. Unterstützung über die Grenzen der Stadt hinaus wird jedoch von Assads Regime nicht geduldet.
Weltoffen oder konservativ?
Obwohl die meisten Ismailiten in Salamiya nicht übermäßig religiös sind, haben sie doch ihren Anteil an einer Entwicklung, für die es im Deutschen kein richtiges Wort gibt, im Englischen heißt sie sectarianism: die eigene Konfession über andere Konfessionen zu stellen und sich und der eigenen Gemeinschaft durch religiöse Zugehörigkeit ein Überlegenheitsgefühl zu verschaffen. Diese Entwicklung wurde von Assads Regime aktiv befördert, seine Macht beruht zum Teil auf ihr. Christen in der Region sehen sehr oft verachtend auf Muslime herab, Muslime stempeln Christen als Ungläubige ab und die vielen verschiedenen Glaubensgruppen innerhalb des Islams liegen miteinander im Zwist – Sunniten, Schiiten, Aleviten und eben auch Ismailiten. Viele Ismailiten verweigern den Sunniten den Respekt und finden deren religiöse Regeln – das Pilgern nach Mekka, das Fasten im Ramadan – zu konservativ.
Die Jubiläumsfeier des Aga Khan verursachte nun heftige Diskussionen unter den Menschen, die noch in Salamiya leben oder aus Salamiya stammen. Ismailiten aus Salamiya sehen sich selbst gerne als besonders weltoffen, fortschrittlich und aufgeklärt, weil sie den Frauen mehr Rechte einräumen und weil Bildung für sie einen so hohen Stellenwert hat. Diejenigen, die nach Frankreich oder Portugal gereist waren, mussten sich anhören, sie seien ebenso konservativ und unaufgeklärt wie jene Sunniten, die sie sonst immer kritisierten: Wo liegt denn der Unterschied, wenn ein Sunnit nach Mekka pilgert, um einen toten Mann zu besuchen (das Grab des Propheten Mohammed), und ein Ismailit nach Frankreich oder Portugal "pilgert", um einen lebenden Mann (Aga Khan) zu sehen? Beide reisen an einen entfernten Ort, um eine Schlüsselfigur ihrer Religion zu besuchen. Mit welchem Recht kritisiert der eine nun den anderen als konservativ und rückschrittlich und blickt auf dessen religiöse Sitten herab?
Das 60-jährige Jubiläum des Aga Khan war ein bedeutendes Ereignis für die Ismailiten aller Welt. Für diejenigen, die aus der Stadt Salamiya stammen, war es auch ein Anlass, sich selbst wichtige Fragen zu ihrer Religion und deren Bedeutung für die eigene Identität zu stellen.
Aus dem Englischen von Benjamin Pontius.
Ghaithaa Alshaar ist in Salamiya in Syrien geboren und aufgewachsen. Sie hat in Damaskus und Homs Musik, Erziehungswissenschaften und Psychologie studiert und mehrere Jahre für UNRWA, das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten, gearbeitet. Sie spielt professionell die arabische Laute (Oud) und lebt in Berlin. |
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