Fünf vor 8:00: Furcht vor der teutonischen Lähmung - Die Morgenkolumne heute von Matthias Naß

 
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FÜNF VOR 8:00
07.11.2018
 
 
 
   
 
Furcht vor der teutonischen Lähmung
 
Noch ist die Kanzlerin im Amt, aber ihre Macht beginnt bereits, zu zerrinnen. Nach 13 Jahren kann man sich eine deutsche Außenpolitik ohne Merkel kaum noch vorstellen.
VON MATTHIAS NASS
 
   
 
 
   
 
   

Bis zum Jahr 2021 will Angela Merkel Bundeskanzlerin bleiben. So hat sie es gesagt, als sie ihren Verzicht auf den CDU-Vorsitz ankündigte. Aber wer glaubt daran? Ihr Vorgänger im Amt des Regierungschefs jedenfalls nicht.
 
"Mit der Wahl von Friedrich Merz zum CDU-Vorsitzenden, von der ich ausgehe, ist das Ende der Regierung von Angela Merkel eingeleitet", sagte Gerhard Schröder am Montagabend bei einer Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin. Eine Ämtertrennung zwischen Parteivorsitz und Regierungsführung kann sich Schröder nur vorstellen, wenn der Parteichef "bis auf die Knochen loyal" ist – so, wie es Franz Müntefering bei ihm gewesen sei.
 
Aber Merkel und Merz? "Wir werden im nächsten Jahr Neuwahlen haben", sagte Gerhard Schröder voraus. Denn einen Kanzler Merz werde die SPD nicht mittragen. "Ich kann mir nicht vorstellen, dass meine Partei alles aushalten kann."
 
Schröders Prognose mag von parteipolitischen Interessen und unfrohen Erinnerungen an den eigenen Machtverlust geprägt sein. Aber auch von außen, von jenseits der Grenzen Deutschlands aus betrachtet, zerrinnt Angela Merkel die Macht zwischen den Fingern.
 
Noch übt sie ihr Amt aus wie immer. Afrika-Gipfel in Berlin, Reise in die Ukraine, Regierungskonsultationen in Warschau – kein Termin, so scheint es, wurde bisher aus ihrem Kalender gestrichen. Und doch, die internationale Presse verfasst bereits politische Nachrufe auf die deutsche Regierungschefin.
 
"Jetzt ist der richtige Zeitpunkt, um auf eine der bemerkenswertesten Führungspersönlichkeiten unserer Zeit zurückzublicken", schrieb die New York Times.  Ihr Rücktritt sei "eine schlechte Nachricht für die Europäische Union", bedauert die spanische Zeitung El Mundo. Und der italienische Corriere della Sera kam zu dem Schluss: "Wir werden Angela Merkel nachtrauern."
 
Man hängt an dem Gewohnten, auch in der Politik. Nach 13 Jahren kann man sich eine deutsche Außenpolitik ohne Merkel kaum noch vorstellen. Sie hatte es mit drei amerikanischen Präsidenten zu tun, mit vier britischen Premierministern und vier französischen Präsidenten. Aber es ist nicht die schiere Amtsdauer, die ihr den Respekt ihrer Kollegen eintrug. Es ist die Art und Weise, wie sie die Macht ihres Amtes und die Stärke ihres Landes einsetzte.
 
Trump wird Merkel mit Freuden gehen sehen
 
Merkel und das von ihr regierte Deutschland standen in den zurückliegenden Jahren für die Verteidigung einer offenen, liberalen Weltordnung, gegen den Rückfall in Nationalismus und Protektionismus. Vor allem der Aufstieg Donald Trumps hat der Kanzlerin eine Rolle zugewiesen, die sie selbst als absurd zurückwies: "Anführerin der freien Welt" zu sein.
 
Aber Trump und seine Anhänger haben den "Globalisten" tatsächlich den Kampf angesagt, denen sie die Schuld für die ökonomischen und sozialen Missstände in den USA geben. Bei den Rechtspopulisten in Osteuropa und in Italien finden ihre Parolen ebenso Widerhall wie bei den Befürwortern des Brexit in Großbritannien.
 
Sie alle machen Stimmung gegen eine angeblich nicht zu kontrollierende Migration. Und weil Angela Merkel im Herbst 2015 die Grenzen nicht schloss, als mehr als eine Million Flüchtlinge nach Europa drängten, haben sie die Kanzlerin zur Hauptschuldigen an den Problemen des Westens erklärt.
 
Donald Trump wird Angela Merkel, wenn sie denn eines Tages das Kanzleramt verlässt, mit Freuden gehen sehen. Und auch Viktor Orbán, Jarosław Kaczyński und Matteo Salvini werden ihr nicht nachtrauern. Was ihr zur Ehre gereicht. Ungerührt hat sie den Rechtspopulisten Paroli geboten. Und ebenso gelassen hat sie es mit den "starken Männern" wie Wladimir Putin oder Recep Tayyip Erdoğan aufgenommen, die in den vergangenen Jahren den Ton angegeben haben.
 
In einer besonders kritischen Phase zieht sich Merkel nun aus dem Parteiamt zurück – und schwächt sich damit unweigerlich auch außenpolitisch. In fünf Monaten schon wird Großbritannien nicht mehr Mitglied der EU sein. Italiens Regierung ist drauf und dran, eine neue Eurokrise anzuzetteln. Und Donald Trump torpediert ein wichtiges Abkommen nach dem anderen; nun will er auch den INF-Vertrag aufkündigen und stellt damit das für Deutschland bedeutendste Abrüstungsabkommen zur Disposition.

Merkel lässt einen französischen Staatspräsidenten zurück, dessen Reformideen für Europa sie nur halbherzig unterstützt hat. Die Vertiefung der Währungsunion oder eine stärkere europäische Zusammenarbeit in der Verteidigungspolitik werden wohl auf die lange Bank geschoben – entsprechend groß ist die Frustration bei Emmanuel Macron.
 
Auch wenn an der europäischen Zuverlässigkeit von Annegret Kramp-Karrenbauer oder Friedrich Merz nicht zu zweifeln ist, so wird auf lange Sicht keiner von beiden die Statur haben, die sich Angela Merkel allein durch die Teilnahme an 102 EU-Gipfeln erworben hat. 
 
In den vergangenen Jahren war Deutschland ein stabilisierender Faktor in der internationalen Politik. Die Erwartungen sind hoch, dass dies auch künftig so bleibt. "Wenn Führung gefordert ist, sollte weder der EU noch der Welt eine längere Periode teutonischer Lähmung willkommen sein", schreibt der Londoner Economist.

In der CDU reden sie jetzt geradezu euphorisch vom neuen Aufbruch. Diese Euphorie sucht man im Ausland einstweilen vergeblich. Typisch ist eher der trübsinnige Tweet, den Richard N. Haass, Präsident des American Council on Foreign Relations in New York, dieser Tage absetzte: "Die Ära Merkel geht zu Ende und lässt den Westen und die Nachkriegsordnung ohne Anführer zurück. Die USA des @realDonaldTrump haben abgedankt. Das Vereinigte Königreich ist abgelenkt. Kanada fehlt es an Mitteln. Macron ist zu schwach. Es steht nicht gut um Stabilität, Wohlstand, Freiheit."
 
Was Niederlagen bei Landtagswahlen nicht alles auslösen können.

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

New York Times E.U. is nervous at prospect of Merkel’s exit 
Financial Times Macron’s EU influence to rise as Merkel’s fades
The Economist Angela’s exit

 
   
 
   
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Fünf vor 8:00 ist die Morgenkolumne von ZEIT ONLINE. An jedem Werktag kommentieren abwechselnd unter anderem Michael Thumann, Theo Sommer, Alice Bota, Matthias Naß, Martin Klingst und Jochen Bittner.