Die Würde des Kaiserschnitts Die natürliche Geburt gilt gerade als Maß aller Dinge. Daher schweigen Frauen, die ihr Kind auf einem Operationstisch zur Welt bringen, oft darüber. Unsere Autorin nicht. VON CAROLINE ROSALES |
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| | Diese junge Frau hat sich ein Tattoo über ihre Kaiserschnittnarbe stechen lassen. © Aly Song/Reuters |
Als die Ärzte ihre Handschuhe anziehen, mir drei Infusionen in beide Arme gelegt werden und ich den Stahl des Operationstisches unter dem dünnen Laken an meinem Steißbein fühle, laufen mir die Tränen herunter. Sie laufen links und rechts meine Schläfen entlang. Weil ich liege, können sie nicht an meinen Wangen herunterkullern. Ich habe eine Art Duschhaube auf dem Kopf und spüre meine Beine nicht.
"Ist alles okay?", fragt die OP-Pflegerin. Sie sieht mich schluchzen. Und dann sagt sie zu meiner Hebamme, die rechts neben ihr steht: "Wir sollten den psychologischen Bereitschaftsdienst dazuholen."
"Aber nein, stopp", rufe ich von unten den zwei Frauen zu, die über meinen Kopf hinweg über meinen Zustand beraten. "Mir geht es gut. Ich weine, weil ich ein Kind bekomme. Das ist doch normal." Die Beiden schauen zu mir herunter und nicken. Sie wollen noch etwas sagen, aber da ist schon keine Zeit mehr.
"Wir haben hier lange Haare", ruft mir der Oberarzt vom anderen Ende des OP-Tisches zu.
Ich schaffe es gerade noch "Ah" zu sagen, höre sie leise wimmern, und dann halte ich sie schon im Arm – meine Tochter. Nass, rosa und schön warm. Sie liegt auf meiner Brust, drei Sekunden alt, aber sie weint, sie ist nicht zufrieden.
"Ich muss sie stillen", rufe ich dem Oberarzt am anderen Ende des Tisches zu. "Nur zu", sagt die Krankenschwester. "Wir sind zwar im OP, aber vielleicht geht's. Oder sie warten noch ein paar Minuten."
Die Hebamme ignoriert den Kommentar und öffnet mein OP-Hemd. In diesem Moment verliebe ich mich spontan in diese entschlossene Frau. Keiner sagt ein Wort. Im Raum ist es ganz leise. Die Ärzte beginnen, meinen Bauch zu verschließen. Ich stille. Der Oberarzt arbeitet konzentriert und sagt nichts. Später bemerkt er verständnisvoll: "Sie sind eine der ersten Frauen, denen im OP-Saal das Stillen gelingt. Chapeau."
Das war sie also, die Geburt meiner Tochter. So, wie ich sie noch nie erzählt habe. Weil ich sie bisher für nicht erzählenswert gehalten habe. Weder dann, wenn meine Bekannten ihre Geburtsgeschichten wie Heldentaten ausbreiteten und schon gar nicht, wenn meine Kinder fragten.
Denn Kaiserschnitte sind nicht der Rede wert, keine echten Geburten, schlimmstenfalls verpönt. Hausgeburten dagegen sind – währenddessen und in der Nachzählung – wahre Events, Alleingeburten sogar Phänomene. Aber ein Kaiserschnitt, nein, das ist in den Augen der Allgemeinheit ein Makel, nichts für die schönen Websites zu Mutterschaft, nichts, was einen Sepia-Filter wert wäre, und schon gar nichts fürs Familienalbum.
So ätzte Charlotte Roche unlängst in ihrer Kolumne in der Süddeutschen Zeitung: "Ich habe keine Lust auf Geburtsschmerzen, will aber ein Kind, und lasse es von Ärzten, die viel verdienen wollen im Gegensatz zu einer Hebamme, die fast gar nichts kostet, mit Termin und OP-Besteck rausoperieren."
"Dein Bauch ist kein Reißverschluss"
"Ah, diese Gerätemedizin", rief auch meine Freundin Lara, als ich ihr von meiner geplanten Sectio bei meinem zweiten Kind, meiner heute vier Jahren alten Tochter, erzählte. "Du weißt schon, dass dein Bauch kein Reißverschluss ist", mansplainte ein vierfacher Vater vor der Entbindung. "Ich habe medizinisch keine Wahl", log ich, um Diskussionen und den missionarischen Eifer der anderen abzuwenden. Mein erstes Kind, mein Sohn, war per Notkaiserschnitt zur Welt gekommen, deshalb müsse das zweite, um Komplikationen zu vermeiden, auch per Kaiserschnitt geholt werden.
"Ja, das ist ja dann verständlich", befand meine gleichaltrige Nachbarin, als würde sie mir die Absolution erteilen. "Wenigstens stillst du", warf sie noch hinterher. Und ich fühlte mich elend. Nicht, weil ich wie viele Mütter Bedauern darüber empfand, keine natürlichen Geburten erleben zu dürfen, sondern aufgrund des Dogmatismus, der mich umgab. Der große Anstieg der Kaiserschnittraten – vor allem in reicheren Milieus – aus nicht medizinischen Gründen sei besorgniserregend, denn er ginge mit Risiken für Frauen und Kinder einher, mahnt Marleen Temmerman von der kenianischen Aga Khan University und der belgischen Universität Gent. Die Ärztin leitete eine weltweite Studie zu Sectiones. Diese stützt sich unter anderem auf die Zahlen der UN-Kinderschutzorganisation Unicef und der Weltgesundheitsorganisation WHO, laut derer sich der Anteil der Kaiserschnitte an allen Geburten seit der Jahrtausendwende fast verdoppelt hat. Er stieg von zwölf Prozent im Jahr 2000, was 16 Millionen von 131,9 Millionen Geburten entspricht, auf 21 Prozent im Jahr 2015 (knapp 30 Millionen von 140,6 Millionen).
Ich träumte von einem Wunschkaiserschnitt
Das mag zwar richtig sein, setzt jedoch in Zeiten, in denen alle auf die Selbstbestimmung pochen, Frauen unnötig unter Druck. Freundliche Empfehlungen zur natürlichen Geburt lauern an jeder Ecke. Und gleich nach der Geburt geht es auch schon weiter, mit Stilltipps und Beikost-Ratgebern von der Krankenkasse, die unaufgefordert im Briefkasten der jungen Mutter liegen.
"Den Geburtsvorbereitungskurs an der Kollwitzstraße kann ich sehr empfehlen." Mit diesen Worten reichte mir mein Gynäkologe nach meinem allerersten Ultraschall einen Flyer. Ganz selbstverständlich ging mein Frauenarzt davon aus, dass ich "spontan gebären" würde – wie er es nannte. Ich sagte nichts, fand aber, dass er eine etwas zu romantisierte Vorstellung von mir, seiner 28-jährigen Patientin hatte. Ich sei doch noch so jung, da gehe das ja von ganz alleine mit ein bisschen pressen, befand er etwas salopp. Ich kommentierte das nicht.
Auch meine Hebamme bestärkte mich: "Ah, das schaffst du schon. Entspann dich. Das Kind entscheidet, wann es kommen möchte." Ich war mir dagegen nicht so sicher, ob das so sein musste. Irgendwie gab es ja trotzdem noch mich. Und so kam es, dass ich mit fortschreitender Schwangerschaft nicht gelassener, sondern unruhiger wurde. Während des empfohlenen Geburtsvorbereitungskurses träumte ich auf meiner Yogamatte von einem Wunschkaiserschnitt. Die anderen Schwangeren lauschten der Kursleiterin, die eine Geburt simulierte, und mir wurde dabei ganz kalt vor Angst. Ich wollte nicht gebären. Ich hatte während meiner Zeit als Sprachstudentin in Tadschikistan eine schwere Magen-Darm-Grippe durchgemacht und musste wochenlang im Krankenhaus liegen. Auch deshalb hatte ich Angst, ich wollte den schmalen Grat zwischen Leben und Tod nicht noch einmal streifen. Ich suchte keinen Kick, keine Selbstfindungserfahrung, kein pränatales Bonding-Erlebnis mit meinem Baby – ich wollte nur safe aus der Sache herauskommen. Mein Becken, meine Scheide, da sollte kein Baby durchgepresst werden. Auch, weil ich mich für eine Realistin hielt und halte. Denn meine Angst ist real und ein Kaiserschnitt ist die sicherste und fortschrittlichste Geburtsform.
"Der Moment der Geburt ist der gefährlichste"
Tatsächlich, so erklärt es mir jetzt auch im Zuge der Recherche für diesen Text Wolfgang Henrich, Chefarzt der Charité, verstarben in den Zwanzigerjahren des 20. Jahrhunderts noch 20 Prozent aller Säuglinge während oder nach ihrer Geburt. In der medizinischen Fachsprache heißt die Ursache Substandard Care. Erst als eine Kaiserschnittrate von mindestens 15 bis 20 Prozent etabliert werden konnte, nahm die Mütter- und Säuglingssterblichkeit kontinuierlich ab. "Der Moment der Geburt ist der gefährlichste im Leben eines Menschen", sagt Henrich. Als Leiter der größten geburtsmedizinischen Klinik in Deutschland, wo allein im Jahr 2017 5.745 Kinder geboren wurden, hat er naturgemäß wenig Verständnis für Geburtshäuser oder Hausgeburten. Wohl aber für eine sichere natürliche Geburt in der Klinik, wo auf Komplikationen ohne Zeitverzögerung und auf höchstem medizinischem Niveau reagiert werden kann.
In so einer war ich – mein großes Glück. Mein erstes Kind kam in einer Novembernacht im Jahr 2011 zur Welt. Per Notkaiserschnitt. Er dauerte keine drei Minuten. Mein Sohn war sofort wach, da, kerngesund. Seine Geburt hat das Krankenhaus nicht mehr Geld gekostet als jede andere.
"Die Erlösspanne bei Kaiserschnitten und natürlichen Geburten ist ungefähr gleich", erklärt Henrich. Beim Kaiserschnitt seien die Kosten für Narkose und OP-Materialien höher. "Die vaginale Geburt ist allerdings wesentlich pflegeintensiver, personalaufwendiger und sollte besser honoriert werden", sagt der Chefarzt auch. Bei einem Kaiserschnitt wiederum sei der Krankenhausaufenthalt etwas länger. Dennoch, insgesamt biete diese Art der Geburt keinen finanziellen Anreiz für die Klinken.
Das sind die Fakten, die im Einzelfall die wenigsten Menschen interessieren. Mich als Beitragszahlerin kümmern die Kosten meiner Geburt genauso wenig wie den 60-jährigen Mann, der sein Leben lang Kette geraucht hat. Unser Gesundheitssystem funktioniert nach dem Solidaritätsprinzip. Daher ist das Kostenargument gegen Kaiserschnittgeburten eines, das nicht stichhaltig ist.
Mehr Aufklärung über negative Folgen von natürlichen Geburten
Nur langsam wird ein Bewusstsein für die möglichen negativen Folgen einer natürlichen Geburt geschaffen. In einem Artikel des Deutschen Ärzteblattes ist zu lesen, dass sich immer mehr Schwangere bewusst werden, in welchem Ausmaß der weibliche Beckenboden infolge einer natürlichen Geburt Schaden nehmen kann, vor allem wenn Risikofaktoren wie Alter, Größe und Gewicht der Frau dazukommen. Betroffene sowie Experten der Urogynäkologie fordern, so heißt es im Artikel, Aufklärung, die sich mehr als bisher am individuellen Risiko der Gebärenden orientiert. "Bei Kaiserschnitten sind wir als Mediziner verpflichtet, die Patientin über alle Risiken aufzuklären, auch über das Risiko des Todes, bei natürlichen Geburten werden alle Risiken in Kauf genommen und als natürlich bezeichnet", erklärt Henrich.
Und tatsächlich werden Frauen in der Schweiz inzwischen auf drohende Schäden hingewiesen. So hält ein Expertenbrief der Kommission Qualitätssicherung der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe unmissverständlich fest, dass Harn- und Stuhlinkontinenz nach einer spontanen Geburt signifikant häufiger vorkommen als bei Sectio-Geburten.
All dies sind Argumente, die den vielen Befürwortern der natürlichen Geburt und vor allem von denen, die diese auf eine etwas eigentümliche Art zelebrieren, nicht einleuchten müssen, aber vielleicht helfen, für etwas mehr Toleranz zu sorgen. Dass auch Kaiserschnittgeburten schöne Erlebnisse sind, die beklatscht und dokumentiert werden sollten. Dass junge Mütter aufhören sollten, sich für ihre Sectiones zu schämen und das Gefühl vergessen sollten, versagt zu haben.
Und wenn ich hier nur eine Sache festhalten könnte, fernab aller Pros und Contras, dann diese: Am Tag, an dem meine Tochter geboren wurde, habe ich morgens noch meinen Sohn geküsst und bin ins Krankenhaus gefahren. Der junge Assistenzarzt hatte ein tolles Parfum und alle Ärzte und Schwestern inklusive der heldenhaften Hebamme waren sehr nett zu mir. Natürliche Geburten haben ihre Würde, Kaiserschnittgeburten aber auch. Caroline Rosales, geboren 1982 in Bonn, arbeitet als Redakteurin der Funke Mediengruppe (u. a. Berliner Morgenpost, Hamburger Abendblatt). Zudem ist sie Autorin von zwei Sachbüchern. Im Jahr 2012 gründete sie den Blog Stadtlandmama.de, der bis heute zu den größten Elternblogs in Deutschland zählt. Sie lebt mit ihren zwei Kindern in Berlin und ist Gastautorin von "10 nach 8". |
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Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht.
Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen. |
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